Sonnenwanderer
sagte sie.
Keine Antwort.
»Keine Alice da, Liebling.«
Sie wollte sich nicht umdrehen. »Was willst du?«, fragte sie deprimiert.
»Das«, sagte er. »Und vielleicht das noch.« Er platzierte seine Prothese gut sichtbar. Tabea sah, wie sich der schwarze Samt von zwei Fingern schälte. Sie vibrierten sanft. Er strich damit über ihre Wange.
Sie ließ es geschehen. Ihr Leib war ein Tier, das nichts von Untreue wusste. Sie nahm Marco vor allem aus Selbstmitleid: Niemand sonst schien sie zu wollen. Sie nahm sich fest vor, von nun an in ihrer eigenen Zeit zu bleiben, sich zu konzentrieren,
wieder Ordnung in ihr Leben zu bringen, nur dass ihre eigene Zeit ein so unsäglicher Scherbenhaufen war. Sarah nicht da, Dodger im Rückenmark verschollen, tot wahrscheinlich; und immer dieses Alice-Imitat, das sich anhörte wie die echte Alice, so perfekt, dass es Tabea grauste.
Sein Gesicht hing über ihr, die hübschen braunen Augen und der hübsche Sängermund. Sie ließ sich küssen. Sie wollte ihn schmecken, sich in dem Geschmack verlieren. Sie nahm seine Zunge in den Mund, da konnte er wenigstens nicht reden.
Er glitt in sie hinein. Das war keine Prothese, das war schlichtes, altmodisches Fleisch, das Original, soweit sie das beurteilen konnte.
»Oh, Liebes, du und ich, man hätte uns nie voneinander trennen dürfen …«
Sie bot sich zum Küssen an. Ficken, nicht Reden. Vergiss alles andere und fick mich, fick mich, fick mich …
Es gab eine Unterbrechung.
Draußen waren mit einem Mal Schläge zu hören, dann krachte es, Kunststoff zerbarst. Schlagartig gingen alle Lampen an. Im nächsten Augenblick flog die Schlafzimmertür auf, und drei Gestalten platzten herein.
Zwei vorneweg: ein schmächtiger Mann im weißen Kampfanzug mit einem großen roten Kreuz auf der Brust und einer kurzen weißen Automatik am bloßen Unterarm und eine Frau mit hagerem Gesicht, auch in Weiß, mit gestärkter Schwesterntracht und Schürze, aber einem gespenstischen Make-up: grellrote Lippen und hohe schwarze Brauenbogen, die ihr den maskenhaften Ausdruck grotesker Überraschung verliehen. An ihrem Ohr baumelte eine Spritze, und in ihrer Armbeuge schlummerte eine Marsten-Persuader. Der dritte Eindringling, hinter den beiden, war farbenprächtig und groß. Die Drinski
in seiner Faust sah aus wie ein kobaltblauer Lolli mit silbernem Stiel.
»Entschuldigen Sie die Störung«, rief er unbeschwert. »Das Sanatorium von Dr. Irsk unter neuer Leitung. Die Kleinigkeit einer offenen Rechnung. Oh, Käpt’n, wusste nicht, dass Sie hier waren.«
Marco war von ihr heruntergeklettert und duckte sich zwischen die Kissen, derweil Tabea ihr Armbandset traktierte. »Es gibt kein Problem!«, plapperte er hysterisch. »Wirklich, Leute, überhaupt keins!« Er scharrte blindlings nach seinen Sachen, wobei sich das Metallbein auf groteske Weise durch das Bettzeug wühlte.
Der Große blickte immer noch auf Tabea. Sie war unter der Bettdecke und blieb, wo sie war. Eine Story mehr, die in das Feuchtgebiet ihrer Legende einging. Die Augen des Großen lächelten. Bart und Kopfhaar waren schwarz. Letzteres war lang und schütter und zu einem Pferdeschwanz gerafft. Er hatte derbe rote Backen und vernarbte Fingerknöchel. Die Frau grinste auch, hatte breitbeinig Stellung bezogen und zielte mit ihrer Waffe auf Marco. Der Mann an ihrer Seite stand genauso da, zielte auch, lächelte aber nicht.
»Es war ein Missverständnis zwischen mir und der Leitung von Kanal 9«, verteidigte sich Marco verzweifelt. »Kommt, Leute. Da ist unser Käpt’n«, biederte er sich an, lächelte und zeigte mit beiden Händen auf Tabea. »Kommt später noch mal. Wir werden uns schon einig.«
Der Große rieb sich die Augenbraue mit dem Knöchel des Daumens. Seine Schultern ruderten kurz unter den breiten Falten des gelben Kragens. »Keine Verhandlungen, nein, tut mir leid«, sagte er. Seine Stimme war hell und bar jeder Drohung. »Zu begleichen sind dreitausendsiebenhundertundfünfundsechzig Skutari.«
»Siebenhun…?«, protestierte Marco.
»Aufstehen«, befahl der Große.
Die Mündung der Persuader zuckte plötzlich, als wolle die Frau abdrücken. Ihr Grinsen wurde noch breiter, als Marco sich verkrampfte und drauflosplapperte:
»O Gott, hört zu, beruhigt euch, okay, nichts überstürzen, Ruhe bewahren und versuchen, alles ins richtige Licht zu rücken. Ich meine, ihr müsst doch zugeben, dass ich hart gearbeitet habe, um diese Bedingungen mit Kanal 9 auszuhandeln, und dass ich nicht
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