Sonnenwanderer
unaufhaltsam. Vielleicht konnte er sie hypnotisieren, vielleicht wirkten sie wie ein Schlaflied ….
»Weißt du«, fuhr er einfach fort, »manchmal bin ich da und von einem Augenblick auf den anderen nicht mehr. Ist dir das schon mal passiert?«
So was wünschte sie sich jetzt. Der Schlaf war verscheucht, übrig blieben die Kopfschmerzen.
Sie zog ihr Armbandset vors Gesicht und stierte es an. Keine Nachrichten, niemand versuchte sie zu erreichen. Ein Lichtpunkt zeigte an, dass sie intern online war.
Der gemurmelte Monolog nahm kein Ende. »Oder ich war noch da und war nur nicht mehr in meinem Körper. Ich flutsche aus meinem Körper und lasse ihn wie eine leere Schale zurück; und weißt du, was ich dann mache? Ich setze mich in die erste Reihe und bleibe dort mit verschränkten Armen sitzen und sage mir: Warum? Du bist Marco Metz, um Himmels willen, du musst nicht mit Prismenjackett und Leuchtpomade auf der Bühne sein und, nichts für ungut, mit einem Haufen blöder Weiber in hautengen Trikots herumtanzen. Du kannst mehr als das, sag ich mir immer. Deine Kunst …«
Tabea setzte sich auf. Sie machte sich am Nachttisch zu schaffen, suchte Pillen. »Hast du - ein paar Tujong?«
»Nicht doch«, sagte er leicht pikiert. »Oder hattest du welche dabei?«
»Crystal …?«
»Ich nehme keine Drogen«, sagte er pauschal.
»Beschissenes Aspirin?«
»Klar.« Seine natürliche Hand, warm und kräftig, streichelte ihr Genick. »Im Badezimmer.«
Sie sah ihn an. »Hol mir welche.«
Er sah sie an. Sein Gesicht war ein Schatten. »Würde ich gerne«, sagte er.
Es war irgendein dämliches Spiel. Erschöpft grub sie das Gesicht in den Arm. »Hast du keine Hilfe?« Sie seufzte.
»Roboter? Die funktionieren doch nicht mehr«, sagte er nachsichtig.
Dann ist es ein Zeitfehler, dachte Tabea. Ich kann mich deshalb an nichts mehr erinnern, weil ich in die Zukunft gerutscht bin. In dieser Zukunft ist alles kaputt. In dieser Zukunft treiben wir hilflos im Hyperraum. Sie packte ihren Kopf mit beiden Händen, versuchte sich buchstäblich zusammenzuhalten.
»Ich wollte sie reparieren«, sagte Marco eben. »So was hab ich immer gern gemacht. Weißt du noch, was ich dir alles repariert habe auf der alten Alice ? Lust auf ein Bier?«
Ihre Kehle war trocken. »Ich hätte gerne - ein verfluchtes - Aspirin.«
»Im Badezimmer«, sagte er.
Er rubbelte ihr den Rücken.
»Liebling, ich würde nichts lieber tun, als dir dein Aspirin zu holen. Das weißt du hoffentlich. Aber mein Bein braucht strikte Ruhe.«
Sie fühlte das Bein neben sich, metallisch und komplex. Die schwarze Samthand lag Handteller nach unten auf dem Laken - wie aus Schatten modelliert.
»Du hast nie etwas getan, was du nicht tun musstest, Marco.«
Der große Künstler warf den Kopf zurück, bäumte und wand sich in gespielter Qual. »Nun mach schon, rede mir von meinen Missetaten. Gib’s mir. Ich pack das. Ich will alles noch einmal durchleben.«
Sie schlüpfte aus dem Bett. Offenbar war sie nicht zum ersten Mal hier. Das musste die Zukunft sein.
»Welchen Tag hatten wir gestern?«
»Donnerstag.«
Das half nichts, weil sie sich nicht entsinnen konnte, welcher Tag es denn hätte sein müssen. Sie tappte wieder ins Bad zurück.
»Tabea? Liebes? Bringst du mir ein Bier mit, wo du schon mal auf bist?«
Die Zukunft enthielt immer ein paar Stückchen Vergangenheit, konnte sie sich schwach erinnern. Sie legte die Stirn an den Spiegel. Sie sah so aus, wie sie sich fühlte: ein vespanisches Schlabbergesicht.
Sie holte zwei Dosen Bier. Mr. Entertainment streckte die
künstliche Hand aus und nahm seine Dose kommentarlos in Empfang. Da sie keine Alternative hatte, stieg sie wieder ins Bett, schluckte Aspirin und trank Bier.
»Ich wollte sie reparieren«, fuhr er fort, »aber sie sind einfach abgehauen.« Sie setzte ihr Bier auf den Nachttisch, zu müde, um weiterzutrinken. Ihr fielen die Augen zu. Sie träumte. Sie fuhr Motorrad, mit einem ganzen Pulk von Bikern. Sie brausten eine breite Ringstraße hinauf, tief in einem flachen See flogen die Spiegelbilder der Träger vorbei.
»Ich kapier das nicht, Marco«, sagte sie im Halbschlaf.
»Ist schon gut, Liebes.«
Gleich anzunehmen, dass sie sich entschuldigen wollte, war typisch für ihn.
Seine Hand war zwischen ihren Beinen. Es war die richtige Hand. Sie war warm.
»Lass dir helfen«, sagte er.
Tabea fühlte sich sehr einsam. Sie war einsam. Sie hatten es schon einmal gemacht. Mindestens einmal.
»Alice?«,
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