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Sonnenwende

Sonnenwende

Titel: Sonnenwende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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(»Die Ärmsten: Goethe ist älter geworden als alle drei zusammen.«) hatten sie den Job, und Tom hatte einen exorbitanten Preis ausgehandelt.
    Der Professor sah aus wie ein Strauß. Tom malte sich gerne aus, wie er plötzlich mitten im Gespräch seinen Kopf für einige Minuten in den Papierkorb steckte, um anschließend zu fragen: »Ähm … wo waren wir stehengeblieben?«
    Die Ränder seiner wuchtigen Brille ragten über sein Gesicht und standen in einem merkwürdigen Widerspruch zu dem Wirbel schütteren Haares, in dem seine Finger ständig etwas zu suchen schienen.
    Hinter verschlossenen Türen nannten Wladimir und Tom ihn Tibatong, nach dem kauzigen Professor aus der Augsburger Puppenkiste, der ebenfalls gesteigerten Wert auf eine korrekte Aussprache legte. Wladimir ging er auf die Nerven, doch Tom mochte seine Fähigkeit zur Selbstironie.
    »Viele halten mich für etwas schrullig, dessen bin ich mir durchaus bewusst. Und wissen Sie … Es stimmt!«
    |32| Dabei verschluckte er sich vor Lachen.
    Zweimal täglich rief er an, um sich nach »dem Fortgang der Dinge« zu erkundigen. Tom ließ sich gerne auf seine gestelzte Sprache ein, während Wladimir kopfschüttelnd aus dem Zimmer ging.
    Tom: »Ich muss Ihnen leider sagen, dass ›beklagenswert‹ noch ein Euphemismus für den Zustand einiger Ihrer Türen ist. Ein ›almost beyond hope‹ träfe es besser.«
    »Wunderbar. Meine Türen sind ›almost beyond hope‹. Köstlich. Ich werde mir das merken … Almost beyond hope … Gut, mein Lieber. Ergreifen Sie die entsprechenden Maßnahmen. Arbeiten Sie, und nähren Sie Ihren Geist. ›Almost beyond hope‹ – eine Allegorie des Lebens selbst. Ich glaube, Sie werden Eingang in meinen Rhetorikkurs finden. Wir hören.«

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    |33| Roswita & Heinz
    Tom lernte Helens Eltern kennen. Wohlmeinende Menschen mit einem netten Häuschen in einem netten kleinen Vorort eines netten Universitätsstädtchens in einem verschlafenen Teil der Republik. Sollten sie sich je gegen die Mechanismen ihrer Ehe aufgelehnt haben, dann musste das Jahrzehnte zurückliegen. Wenn Roswita etwas wollte, eine neue Auslegeware für das Schlafzimmer zum Beispiel, dann fing sie so oft wieder damit an, bis Heinz sich schließlich dreinschickte. Und wenn sie den Teppichboden in Grün wollte und schön flauschig, dann nahm man ihn eben in Grün und schön flauschig, auch wenn Heinz die Farbe eigentlich nicht so zusagte und die hohen Fasern sich anfühlten, als würde er auf etwas Organischem laufen.
    Er hätte gerne mal am Meer Urlaub gemacht und einen ganzen Tag lang unter einem Schirm auf der Liege gedöst, aber Roswita wollte Bewegung und suchte nach Herausforderungen. Wandern war ihre Leidenschaft, hoch hinauf. Das halte sie jung, sagte sie. Also fuhr man in die Berge. Das war
auch
ganz schön, und manchmal konnte man von oben in der Ferne sogar das Meer sehen. Dabei hätte Heinz nichts dagegen gehabt, in Ruhe alt zu werden, statt sich so abzustrampeln, um jung zu bleiben. Er wollte gar nicht mehr jung sein, das Alter hatte für ihn durchaus verlockende Seiten.
    Heinz war in die Fußstapfen seines Vaters getreten und hatte in den sechziger Jahren dessen Schusterei übernommen, in der er schon in der Zeit nach dem Krieg gearbeitet hatte. Fast vierzig Jahre hatte er ehrliches Geld verdient. Die Leute gingen damals viel zu Fuß und konnten es sich nicht leisten, |34| abgelaufene Schuhe wegzuwerfen. Roswita arbeitete seit über dreißig Jahren als Gehilfin in der einzigen Apotheke im Ort. Medikamente würden die Menschen immer brauchen. Mittags ging sie für anderthalb Stunden nach Hause, um für Heinz Essen zu kochen. Der fragte sich oft, wo sie die ganze Energie hernahm. Wenn sie mal in Rente ging, würde es zu Hause ganz schön ungemütlich werden. Als sie schon nicht mehr daran geglaubt hatte, war sie doch noch mit Helen schwanger geworden und konnte ihr spätes Glück kaum fassen. Helen war ihr ganzer Stolz.
    Ursprünglich hatte Helen Medizin studieren und Ärztin werden wollen, aber Roswita und Heinz konnten sie davon überzeugen, dass es vor möglichen Enttäuschungen schützte, es bei der Ausbildung zur Krankenschwester zu belassen. Roswita sagte es ihr nicht so direkt, aber sie empfand es als anmaßend, dass ausgerechnet
ihre
Tochter Ärztin werden wollte. Sie waren einfache Leute; es war ungebührlich. Man reckte sich nicht nach Früchten, die für andere bestimmt waren. Helen wollte sich behaupten, zweifelte aber an ihren eigenen

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