Sonnenwende
unter dem Lärmschutz kleine Kopfhörer getragen, um sich mit Bach-Inventionen bei Laune zu halten, was sich als folgenschwerer Fehler erwies. Ohne es zu bemerken, hatte er ein Wellenmuster in den Flur geschliffen, das ihm zunächst nicht auffiel. Nicht einmal, als er anfing, zu lackieren, hegte er einen Verdacht, obwohl die Lackierwalze so seltsam hoppelte.
|10| »Ist was?«, kam es von Wladimir.
»Die Rolle scheint nicht in Ordnung zu sein. Hat irgendwie … eine Unwucht.«
Eine Unwucht, klar. Nachdem der Flur eine glänzende Lackfläche war, wurde das Ausmaß des Schadens offenbar.
»Wladimir, kannst du mal kommen?«
Sie standen in der Tür wie zwei Autohändler beim Blick unter die Motorhaube. Wladimir rieb sich das Kinn, legte den Kopf schief, als betrachte er ein Kunstwerk, und schwieg. Das hielt Tom nicht lange aus: »Sieht aus wie …«
»… ein Tiger.«
»Besser hätte ich es auch nicht sagen können.«
Die Wohnung lag im Hinterhaus. Erdgeschoss. Lichtverhältnisse wie in einem Verlies. Sie drehten kurzerhand vor der Übergabe die Birne heraus, in der Hoffnung, der Auftraggeber würde in der Dunkelheit den Tiger nicht erkennen. Konnte er aber doch. Wladimir erklärte ihm, dass sie so etwas auch noch nicht erlebt hätten. Schuld daran sei die schwingende Balkenkonstruktion, auf der man den Unterboden verkehrt vernagelt hätte; die dadurch entstandenen Vibrationen hätten einen glatten Schliff unmöglich gemacht.
Er war barmherzig genug, Wladimirs Gestammel durchgehen zu lassen, und zahlte 3200. Zusätzlich mussten sie elfhundert Euro für nicht einkalkuliertes Material abziehen. Ein Hungerlohn also, wenn man ihre fragmentierten Knie in Betracht zog. Tom war heilfroh, als sie endlich aus der Wohnung waren.
Nachdem sie das Werkzeug verstaut hatten, sagte Wladimir: »Was für ein Idiot. Wie kann der so eine Arbeit abnehmen?«
Später lernte Tom, dass diese Reaktion für Wladimir typisch war: Statt sich über das Entgegenkommen des Kunden zu freuen, beschimpfte er ihn noch.
|11| »Beim nächsten Auftrag müssen wir aber besser kalkulieren«, meinte er, und das war der Startschuss für ihre Zusammenarbeit.
Seitdem war Tom »Der Dompteur«, oder auch »Il Domatore«. Inzwischen war es ein Running Gag. Wenn sie mit Paul unterwegs waren und Wladimir mal wieder einen Grund gefunden hatte, Tom als Idioten oder Ähnliches zu beschimpfen, dann kam es von Paul: »Pass auf, Wladimir, sonst holt Tom seine Peitsche raus«, oder auch: »Vorsicht, gleich macht er den Käfig auf.«
Sie fuhren schläfrig an leuchtend gelben Rapsfeldern und glücklichen Kühen vorbei und hielten an jeder zweiten Autobahnraststätte, weil Paul entweder pinkeln, essen, trinken, sich die Beine vertreten oder auch nur mal sein Gesicht in die Sonne halten musste. Zwischen Braunschweig und Hannover war es so eintönig, dass Wladimir anfing, von seinem Vater zu erzählen. Tom fand, er klang merkwürdig teilnahmslos, als spreche er von einem alten Bekannten. Den Tod seines Vaters hatte er »zur Kenntnis genommen«, das genügte.
König Otto war Leiter der Bibliothek der Vereinten Nationen gewesen, und zeitlebens hatte ihn nur eine Sache wirklich begeistern können: Wissen. Er hatte sich als Gefäß gesehen und sein Leben damit verbracht, dieses Gefäß zu füllen. Er las. Bei etwas anderem war er praktisch nie beobachtet worden. Mittelalterliche Traktate, Abhandlungen über exotische Vögel aus dem 19. Jahrhundert, französische Existentialisten, einfach alles. Eine ganze Woche hatte er in gebeugter Haltung über einem Brockhaus-Band zubringen können – PAS-RIM.
Seine Angestellten hatten ihn wie einen Heiligen verehrt. Bei besonders schwierigen Buch-Patienten, denen weder Computer noch Bibliothekar weiterhelfen konnten, hatte man ihn aufsuchen müssen, um ihm den Fall vorzutragen – in seinem |12| Elfenbeinturm gab es kein Telefon. Er hatte dann Flügel, Raum, Reihe und Regal auf eine Karteikarte gekritzelt und sie über den Tisch geschoben, als handele es sich um einen konspirativen Treffpunkt. Zum Glück hatte seine junge Freundin die Lästigkeiten des Alltags von ihm ferngehalten.
Was Frauen anging, war er nicht gerade zimperlich gewesen. Wladimir hatte eine Kopie seines Testaments dabei:
(…) Liebe Alexandra, du weißt, wie sehr ich dich schätze und wie dankbar ich dafür bin, dass du mir meine letzten Jahre so sehr versüßt hast. Deshalb sehe ich auch keine Notwendigkeit, die Dinge nicht beim Namen zu nennen: Es lohnt
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