Sonntag bis Mittwoch
beobachtet, gehe ich schweigend vorbei. Morgen ist Zeit für Erklärungen. Erklärungen und noch mehr Lügen. Genügend Zeit, um das Gebäude auf dem wackligen Fundament der Lüge zu errichten, auf dem es in Zukunft stehen muß.
Ich spüre Geoffreys Blicke auf meinem Rücken, als ich den Aufzug betrete … Es hat mich fast um den Verstand gebracht, daran zu denken, daß man sie vielleicht in eine staatliche Anstalt steckt … wissen doch alle, wie es in diesen Heimen zugeht –
Ja, das wissen wir. Und unternehmen nichts dagegen. Eine grausame und ungerechte Welt. Die Wilby nicht akzeptieren wollte. Statt etwas zu tun, schloß er sich aus. Wie die meisten von uns, auf die eine oder andere Art. Wie ich es nicht mehr tun werde. Nie mehr. Seltsam paradox, daß ich durch Wilby darauf gekommen bin. Das Körnchen Sand, das in die Austernschale dringt und eine Perle erzeugt.
Während der Aufzug emporschwebt, überkommt mich allmählich Erleichterung. Ich spüre sie heilend und belebend durch mich fluten. Es ist vorbei. Es ist wirklich zu Ende. Wir sind wieder frei: Lydia, Anne, Glenn, wir alle. Überfallen, gefangen, nun befreit. Frei.
Ich schlendere den vertrauten Korridor entlang, als sähe ich ihn zum erstenmal – oder in einem anderen Licht. Nicht mehr blind, erkenne ich ihn als Weg zu einem Ort, an dem Sinn und Verheißung meines Lebens konzentriert sind.
Langsam öffne ich die Tür, zugleich zögernd und vor Erwartungsfreude bebend.
Ich gehe hinein.
Wieder werde ich an die Städte Europas nach dem Krieg erinnert. Zuerst packt mich Bestürzung: Wie soll eine so gräßliche Verwüstung jemals wieder in jene kultivierte Ordnung, in die geborgene, stille Schönheit verwandelt werden, die mir in der Vergangenheit nur undeutlich bewußt war? Wie kann das geschehen?
Nun, genauso wie die vielen ausgeplünderten, zerstörten und gebrandschatzten Städte im Lauf der Geschichte wiedererbaut wurden, wie die Menschen immer nach Katastrophen, Feuer, Flut oder Wirbelstürmen ihre Stätten und Leben aus den Trümmern bargen und neu begannen. Durch Willenskraft, Energie und Geistesstärke des Menschen werden die Wunden geheilt, und neue Schönheit ersteht. Durch Hingabe, und Liebe.
Ich öffne die Fenster, die Terrassentür. Dann stelle ich den 'Thermostat auf die niedrigste Temperatur ein. Zuerst muß der Gestank weichen. Der Gestank von Sumpf und Dschungel.
Ich schlüpfe aus dem Jackett, unter stechenden Schmerzen in Hand und Arm, wobei mir das Gewicht der Waffe in der Tasche auffällt. Ich nehme sie heraus und betrachte sie. Wird die Zeit jemals kommen, wo jede Art von Waffe dem Menschen so anachronistisch erscheint wie die frühgeschichtlichen Altäre, auf denen menschliche Blutopfer dargebracht wurden? Ich wickle den Revolver in das Jackett und lege das Bündel auf die unterste Stufe. Professor Kantor hatte recht: Diese Zeit wird kommen, doch bis dahin, um gegen die Feinde des Fortschritts bis zu jenem fernen Punkt der Evolution zu überleben –
Ich schaue auf die Uhr: fünf Minuten vor elf, über eine Stunde, ehe Lydia bei größtem Glück, bei aller Entschlossenheit und Umsicht frühestens eintreffen kann. Wahrscheinlich steht mir die ganze Nacht und noch ein Teil des morgigen Tages zur Verfügung. Sogar mit einer Hand werde ich es schaffen. Jetzt kann ich alles, alles!
Ich hebe den zersplitterten Rahmen auf und betrachte das klaffende Loch, das einstmals ein schönes Kunstwerk war. Von einer Schönheit, die ich nicht ganz zu erkennen vermochte, die Lydia aber sofort beeindruckt hätte, über zwanzig Jahre Arbeit; mehr als zwanzig Jahre meines Lebens. Und doch schmerzt mich der Verlust nicht. Die Ersparnisse meines Lebens. Falsch! Ich bin noch nicht Fünfzig. Dann also die Ersparnisse meines halben Erwerbslebens. Jeder kann Geld verdienen. Neue Kraft durchströmt mich, als ich die Reste des Bildes in den Müllschlucker in der Küche stopfe und mir Schaufel und Besen hole. Wenn mein halbes Leben als Erwachsener hinter mir liegt, habe ich die Hälfte noch vor mir. Wenn nicht weitere zwanzig Jahre, dann eben den mir gegebenen Teil dieser Zeit: meine Ewigkeit. Es kommt nicht auf die Dauer an, sondern auf die darin zusammengeballten Ereignisse, sei die Spanne nun lang oder kurz!
Ins Wohnzimmer zurückkehrend, spüre ich die Elastizität und Stärke meiner Schritte, die Vitalität in mir. Es ist vorbei, vorbei, und Lydia wird bald hier sein!
Ich schaue das verschmierte, entweihte Porträt an. Dann nehme ich es von
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