Sorry
nur fünf Tische sind besetzt, vor den Fen stern brennen Kerzen, die Flammen zittern in der aufsteigenden Heizungswärme. Wolf bestellt eine Suppe, Tee und ein Glas Wasser. Er schaltet sein Handy für die nächste Stunde aus und legt die Hände auf die Tischplatte.
Ruhig.
Einmal war es ein Vogelschwarm, der sich in der Luft drehte und Wolf an ihre Augen denken ließ. Einmal war es die Art, wie eine Frau ihren Löffel am Rand ihrer Tasse abklopfte. Die Welt ist vollerAuslöser. Kleine Stolperfallen der Erinnerung. In den ruhigen Momenten sucht Wolf sie minutiös auf.
Der Tee kommt, der Kellner stellt einen Teller mit Papadam auf den Tisch und sagt etwas über das Wetter. Wolf bedankt sich für den Tee und wartet, bis der Kellner gegangen ist. Er riecht, er kostet. Der Geschmack von Kardamom und die Süße des Honigs lassen ihn seufzen.
Erin .
Wolf weiß, daß Erinnerungen sich abnutzen und mit den Jahren eine Wandlung durchmachen, bis schließlich keiner mehr sagen kann, ob es sich noch um Erinnerung oder Einbildung handelt. Und weil Wolf das alles weiß, klammert er sich an jede noch so unbedeutende Erinnerung, die ihn zu Erin führt.
Sein zweiter Termin ist in der Wiener Straße gegenüber vom Görlitzer Park. Am Hauseingang gibt es kein Klingelschild. Die Tür ist nur angelehnt und sieht aus, als würde sie jeden Tag mindestens zehnmal aufgetreten. Neben der Haustür führt ein Tor in den Hinterhof. Auch das Tor ist offen.
Wolf kommt an Fahrrädern, Mülltonnen und einer schlafenden Katze vorbei, die auf den Steinen liegt. Er wirft einen Blick auf die Uhr. Sein Termin ist um vier, er hat noch ein paar Minuten und klopft sich eine Zigarette aus der Schachtel.
– Auch eine? fragt er die Katze.
Der Bauch der Katze hebt und senkt sich, als wähnte sie sich in vollkommener Sicherheit. Wolf hätte gerne ihre Zuversicht. Er sieht nach oben. Über ihm schwebt ein Rechteck Himmel. Keine Wolken. Entfernt der rauschende Verkehr, das Knallen einer Tür, jemand hustet. Wolf will im Moment nirgendwo anders sein. Nur in Berlin schmecken ihm Zigaretten so gut.
Im Hinterhaus ist die Luft stickig. Es riecht nach angebratenen Zwiebeln und gekochtem Fleisch. Wolf erinnert der Geruch an die Sülzen, die eine seiner Tanten immer gekocht hat. Sülzen waren ihre Spezialität. Ihre Hände rochen genau wie das Hinterhaus. Wolf versucht, sich an den Namen der Tante zu erinnern. Eine Frau mit Kopftuch kommt ihm entgegen.
– Tag, sagt er.
Die Frau senkt den Blick und drückt sich an die Wand, damit er vorbei kann. Ihre Schritte sind auf den Stufen kaum zu hören. Wolf steigt die Treppe weiter hoch. Im vierten Stock schnappt er nach Luft, seine Achselhöhlen dampfen. Er braucht dringend eine Dusche und möchte sich am liebsten die nächste Zigarette anzünden.
Ein Namensschild fehlt; da es aber in diesem Stockwerk die einzige Tür ist, hat Wolf keine Auswahl. Er klingelt. Er wartet. Er klopft. Die Tür schwingt nach innen auf.
Nicht gut, gar nicht gut.
Im Flur brennt Licht. Musik ist zu hören. Eine Menge schlechter Filme fangen genau so an.
– Hallo? Frau Haneff?
Wolf stößt die Wohnungstür ein wenig weiter auf.
– Hallo? Ich komme von der Agentur. Wir haben uns gestern gemailt.
Keine Reaktion.
Wenn das vorhin Frau Haneff war, die mir auf der Treppe entgegenkam, dann ...
Wolf denkt darüber nach, einfach wieder zu gehen.
Vielleicht hat Frauke den Termin durcheinandergebracht.
– Hallo?
Der Flurboden ist dreckig, Kratzer ziehen sich über die Tapete, an der einen Wand ist ein Wasserfleck in Form eines Weihnachtsbaums. Wolf will nicht umsonst nach Kreuzberg gefahren sein.
– Ich komm mal rein, ja? sagt er und geht rein.
Nicht nur der Flur sieht aus, als wäre eine Renovierung fällig. Wolf erwartet, in einem der Räume eine Leiter, Werkzeug und Handwerker zu sehen, die ihre Bierflaschen hinter dem Rücken verstekken und gequält lächeln.
Das erste Zimmer ist die Küche. Ein vergammelter Herd steht mitten im Raum, ansonsten gibt es keine Möbel. Die Fenster sind verdreckt, Abflußgeruch hängt in der Luft. Wenn jemand hier falsch ist, dann ist es Wolf.
– Frau Haneff?
Er folgt der Musik und findet die Frau in dem Zimmer, in demauch das Radio steht. Eine Wandseite ist ganzflächig von einer Fototapete bedeckt. Sie muß neu aufgetragen worden sein, denn sie glänzt noch feucht und löst sich an der einen Ecke. Die Fototapete zeigt im Hintergrund Berge, im Vordergrund einen Herbstwald mit einem See.
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