Sorry
Am Ufer steht ein Hirsch und trinkt. Frau Haneff schwebt über dem Wasser des Sees, als würde sie zum Himmel aufsteigen wollen. Die Arme sind nach oben gestreckt und zusammengelegt, ihre Füße hängen Zentimeter über dem Boden, die offenen Augen schauen starr auf die gegenüberliegende Wand. Ein Nagelkopf ragt aus ihrer Stirn, ein zweiter Nagelkopf hält die Hände über dem Kopf. Sie ist barfuß, unter ihren Füßen hat sich eine Blutlache gebildet. Ihre Schuhe stehen ordentlich neben dem Radio. Wolf sieht, wie sich ein weiterer Blutstropfen von der linken Fußspitze der Frau löst. Wäre das Radio ausgestellt, könnte er hören, wie der Tropfen in der Lache landet.
Wolfs erster Gedanke ist: Wo bekommt man so lange Nägel her? Sein zweiter: Das ist nicht echt, das ist ... Einen dritten Gedanken hat er nicht, denn der Magen kommt ihm hoch, und er rennt würgend aus dem Zimmer.
Minuten später lehnt Wolf mit dem Rücken an der verdreckten Flurwand und raucht. Die Zigarette zittert zwischen seinen Fingern. Ab und zu schaut er zur offenen Zimmertür. Das Radio spielt unermüdlich weiter. Wolfs Gedanken sind ein Chaos. Er starrt an die Flurdecke und versucht, sich zu konzentrieren. Noch mehr Wasserflecken. Seine Hände hören nicht auf zu zittern. Verdammt, beruhigt euch doch, bitte. Er hat das Gefühl, er scheißt sich gleich in die Hose. Dann beginnt er zu denken. Endlich.
Kris. Ich muß mich bei Kris melden ...
Nein, ich muß die Polizei rufen. Ich muß ...
Verschwinden, ich muß so schnell wie möglich von hier verschwinden. Und dann Kris anrufen und - - -
Wolf schreckt auf, als sein Handy klingelt.
Wenn das Kris ist, dann ...
– Ja?
– Wie sieht sie aus?
– Was?
– Wie sie aussieht? Ist sie verrutscht? Haben sich die Nägel gelöst?
Wolf spürt ein Zucken im Gesicht und schaut auf das Display. Die Nummer ist unterdrückt.
Er hält das Handy wieder an sein Ohr.
– Noch dran? fragt die Stimme.
– Ich bin noch dran.
– Also?
Wolf kommt auf die Beine. Er taumelt, muß husten und hustet. Er läuft auf zittrigen Beinen durch die Küche und zum Fenster. Bitterer Gallegeschmack steigt seine Speiseröhre hoch. Wolf unterdrückt ein erneutes Würgen und sieht auf den Hinterhof.
Wo ist er? Wo versteckt er sich?
– Wer bist du? fragt Wolf.
– Falsche Frage, erwidert die Stimme. Die Frage ist, hast du deinen Job getan?
– Welchen Job?
– Sag mal, bist du ein Idiot?
Wolf schweigt, er hört den Mann am anderen Ende atmen, auch in den gegenüberliegenden Fenstern ist niemand zu sehen.
– Wofür bezahle ich euch, mh? Mach deinen Job. Und mach ihn richtig.
Die Verbindung wird unterbrochen. Wolf drückt sich noch immer das Handy ans Ohr. Niemand läuft im Hausflur gegenüber die Treppe hinunter. Alles ist still.
Mach deinen Job.
Wolf rennt zur Haustür.
Ich muß hier weg. Schnell. Bevor die Hölle ausbricht und die Polizei auftaucht. Ich muß Kris anrufen, denn Kris wird wissen, was zu tun - - -
Vor der Tür liegt eine Papiertüte.
Wolf steht reglos im Türrahmen und starrt die Tüte an. Spring drüber und verschwinde, mach schon.
Nachdem Wolf einen Blick in die Tüte geworfen hat, schließt er die Wohnungstür von innen und wählt die Nummer von Kris.
FRAUKE
Kris hat am Telefon gesagt, daß er sie sofort treffen muß. Daraufhin sind Frauke und Tamara nach Kreuzberg gefahren. Sie haben den Hof überquert, das Hinterhaus betreten und sind die vier Stockwerke hochgestiegen. Jetzt stehen sie im Türrahmen des Wohnzimmers und wagen es nicht, den Raum zu betreten. Ein Radio steht auf dem Boden, ein Song von America ist zu hören. Die angenagelte Frau starrt auf die gegenüberliegende Wand.
– Ist sie tot? fragt Tamara.
– Natürlich ist sie tot, sagt Wolf.
– Hast du es nachgeprüft? will Kris wissen.
Wolf schüttelt den Kopf. Kris betritt das Zimmer und stellt das Radio ab. Er bleibt vor der Frau stehen, streckt sich und berührt ihren Hals. Eine Minute lang steht er einfach nur da, bevor er den Arm sinken läßt. Sie wenden sich alle vier gleichzeitig ab.
Tamara lehnt neben dem Küchenfenster an der Wand. Sie sagt, sie weiß nicht, ob sie allein stehen kann. Frauke reicht ihr eine Zigarette, Tamara schüttelt den Kopf. Wolf erzählt von dem Anruf und was der Mann gesagt hat. Dann zeigt er ihnen die Papiertüte, die vor der Wohnungstür lag.
– Ich weiß ja nicht, was ihr denkt, aber wir sollten hier verschwinden. Und zwar so schnell es geht.
Kris schüttelt den Kopf.
–
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