SOS Kinderseele: Was die emotionale und soziale Entwicklung unserer Kinder gefährdet - - und was wir dagegen tun können (German Edition)
durchzustehen. Sie werden große Schwierigkeiten in Beziehungen zu anderen Menschen bekommen, weil sie sich auf diese kaum noch einstellen können. Das Leben von Heranwachsenden wie Dennis ist nur noch auf den Moment ausgerichtet, es geht ihnen um eine sofortige Lustbefriedigung. Ein vorausschauendes Denken, das etwa auch die Fähigkeit zur Zurückstellung von Bedürfnissen beinhaltet, ist ihnen nicht möglich. Dennis wäre normalerweise gar nicht auf die Idee gekommen, eine Säge zu klauen. Er hätte es auch ausgehalten, dass sein Kart defekt ist und er einige Tage nicht fahren kann. Er hätte vielleicht die Motorsäge vom ersparten Geld finanziert, wäre dafür arbeiten gegangen oder hätte den nächsten Geburtstag oder Weihnachten abgewartet.
Wenn wir den Mangel in der emotionalen und sozialen Entwicklung nicht rasch erkennen und mit geeigneten Maßnahmen gegensteuern, droht uns langfristig ein Phänomen wie das der japanischen Hikkikomori – Jugendliche, die quasi nur noch auf ihrem Zimmer leben und so lange »glücklich« sind, wie dort ein Fernseher steht, die Internetverbindung funktioniert und der Kühlschrank gefüllt ist. Diese Generation wird es nicht mehr als Erfüllung empfinden, aktiv zu sein, etwas zu erleben, was emotionalen Mehrwert bringt, sondern die Erfüllung wird im ultimativen »Chill-out« liegen, der sich auf den kompletten Alltag erstreckt. Es droht eine Generation, die ein imaginäres »Bitte nicht stören«-Schild an der Stirn hängen hat.
Empathie, Arbeitshaltung, Frustrationstoleranz, auch die Fähigkeit, unterschiedliche Reize zu priorisieren, also nach Wichtigkeit einzuteilen – all diese wichtigen Grundlagen des Lebens, die nur durch eine entwickelte soziale und emotionale Intelligenz möglich werden, sind keine Eigenschaften, die der Mensch von Geburt mitbekommt. Sie entwickeln sich langsam und machen den Menschen schließlich erst zu einem sozialen Wesen. Leider scheint es so zu sein, dass immer weniger Kinder und Jugendliche mit den Menschen in ihrem Umfeld in diesem Sinne umzugehen verstehen.
Die Frage, die wir uns stellen müssen, lautet: Sind wir Erwachsene so weit, dass wir uns diesem Problem unvoreingenommen stellen? Oder wollen wir uns weiterhin darauf beschränken, bei jedem Hinweis auf Hintergründe für eine emotionale Verarmung junger Menschen reflexartig mit dem Verweis auf die eigene Jugend zu reagieren? Denn das ist das beliebteste Argumentationsmuster, um die von mir angestoßene Debatte gar nicht erst führen zu müssen. »Wir waren früher auch mal frech!«, »Ich habe als Jugendlicher jede Menge Mist gebaut, und aus mir ist trotzdem etwas geworden!«, »Wir haben doch auch oft keine Lust gehabt und uns geweigert, etwas zu machen!« Solche und ähnliche Argumente werden angeführt, um zu beweisen, dass die Lage so dramatisch nicht sein könne. Gern wird dann zum Schluss noch Sokrates bemüht, der gesagt haben soll:
»Sie [die heutige Jugend] hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt vor den älteren Leuten und schwatzt, wo sie arbeiten sollte. Die jungen Leute stehen nicht mehr auf, wenn Ältere das Zimmer betreten. Sie widersprechen ihren Eltern und tyrannisieren ihre Lehrer.«
Wenn es also Null-Bock-Jugendliche schon in der Antike gab: Wo ist unser Problem? Haben nicht die Menschen recht, die alles für halb so schlimm halten? Ich meine, nein. Die in den genannten Zitaten aufscheinende Abwehrhaltung gegen eine unbequeme, aber gleichwohl notwendige Diskussion hat in den letzten Jahren leider nicht abgenommen. Deshalb ist es sinnvoll, die Grundlagen dieser Diskussion zu schärfen und sie endlich vom Kopf auf die Füße zu stellen. Der Blick muss weg von der Pädagogik, hin zur Entwicklungspsychologie.
Wir müssen also aufhören, uns über pädagogische Modelle und Unterrichtsmethoden die Köpfe heißzureden, solange wir nicht bereit sind zu verstehen, dass Kinder, denen die emotionale und soziale Reife für Kindergarten und Schule fehlt, keinem dieser Modelle, keiner dieser Methoden gewachsen sind. Diese Kinder werden sonst das soziale Miteinander in unserer Gesellschaft auf Dauer sprengen. Spürbar ist das schon jetzt immer öfter, wenn deutlich wird, dass Kinder, die ohne eigene Schuld nicht die Möglichkeit hatten, sich altersgemäß zu entwickeln, von Erwachsenen als nervig empfunden und entsprechend negativ gesehen werden. So kommen Aussagen wie diese zustande, die der Focus aus einem Leserbrief zitiert:
»Die Leserin S. Z.
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