SOS Kinderseele: Was die emotionale und soziale Entwicklung unserer Kinder gefährdet - - und was wir dagegen tun können (German Edition)
besitzen keinerlei Körperspannung. Trotz Erziehung ist kein Unrechtsbewusstsein festzustellen, trotz bester Intelligenz erkennen sie keine Konfliktzusammenhänge und können somit auch nicht aus Konflikten lernen.
Die Betreffenden sind nicht expansiv, wie Jugendliche es normalerweise in diesem Alter sind, das heißt, sie zeigen keinerlei Tendenz, »etwas aus dem Leben zu machen«. Sie erkennen keine Strukturen und Abläufe, Empathie ist bei ihnen nicht vorhanden. Schule ist »Mist«, Lehrer sind »blöd«, Lernen ist es selbstverständlich auch.
Und nun komme ich zu dem Beispiel: Manche Familien sind in der Lage, ihre jugendlichen Kinder, die Störungen in der sozialen und emotionalen Entwicklung aufweisen, für einige Zeit nach England in ein Internat zu schicken. Was dort mit den Jugendlichen geschieht, ist frappierend: Zunächst machen sie die Erfahrung, dass es so etwas wie eine Sprachbarriere gibt. Das wiederum führt dazu, dass ihr narzisstisches Weltbild, ihre Überzeugung, sie könnten alles und jeden bestimmen und steuern, von Anfang an nicht funktioniert.
Ein Beispiel: Wenn ein Engländer sagt: »Deck bitte den Tisch«, müsste die typische Reaktion dieser Jugendlichen sein: »Ja, gleich, warum ausgerechnet ich?« Diese müsste jedoch erst einmal übersetzt werden. In dieser Zeit kümmert sich der Engländer aber schon um die nächsten Dinge und nimmt die Reaktion des Jugendlichen gar nicht ernst.
Das passiert permanent und hat sich als der entscheidende Faktor herausgestellt: Die Jugendlichen machen plötzlich die Erfahrung, dass sie nicht mehr alle und alles um sich herum steuern können und dass der Mensch nicht reagiert wie ein Gegenstand. Wichtig an diesem Beispiel ist, dass es nicht Strenge ist, die hier eine Veränderung in der Entwicklung des Jugendlichen bewirkt, sondern die Erfahrung, dass er aufgrund der Sprachbarriere seine Bezugsperson nicht mehr steuern kann.
Dazu kommt, dass an englischen Internaten nicht so eine starke individuelle Sicht vorherrscht wie in Deutschland. So gibt es Zwei- und Vierbettzimmer, der Jugendliche ist also ständig darauf angewiesen, sich auf andere einzustellen. Der Tag besteht überwiegend aus ritualisierten Abläufen mit vielen festen Zeiten für bestimmte Dinge, sodass ständige Orientierung herrscht.
Von ganz besonderer Bedeutung aber ist die Haltung der Lehrer gegenüber ihren Schülern. Sie beziehen die Schüler sehr stark auf sich, viel stärker, als das in deutschen Schulen der Fall ist. Wenn etwa ein Schüler im Unterricht nicht mitmacht oder nicht richtig mitkommt, dann kümmert der Lehrer sich um diesen Schüler beispielsweise in der Pause noch einmal extra. Insgesamt werden die Schüler vom Lehrer sehr stark angeleitet, und das Regelwerk, das an der Schule existiert, wird vom Lehrer ohne Diskussion angewendet.
Bereits nach nur drei Monaten im Internat zeigen sich bei diesen Jugendlichen deutliche Veränderungen. Wenn ich sie wiedersehe, haben sie eine Körperspannung, nehmen also wahr, dass um sie herum etwas passiert. Wenn ich ihnen Fragen zum Internat stelle, können sie sich in mich einfühlen, also erkennen, dass ich dort noch nicht gewesen bin, und beantworten diese Fragen so, dass ich mir etwas darunter vorstellen kann. Die Lehrer werden nicht nur akzeptiert, sondern regelrecht begeistert angenommen. Auf meine Nachfrage, ob ihnen die Lehrer denn nicht zu streng gewesen seien, kommt die Antwort, es seien nicht die Lehrer, die streng seien, sondern es gebe ein strenges Regelwerk, und es sei gut, dass die Lehrer es so konsequent umsetzen.
Warum ist das Regelwerk so wichtig? Es schafft Klarheit und gibt Orientierung, die Beziehung zum Lehrer bleibt dadurch unbelastet. Wenn mir ein Polizist einen Strafzettel verpasst, so macht er das nicht aus Lust und Laune, sondern aufgrund der Straßenverkehrsordnung. In deutschen Schulen jedoch ist der Lehrer das Regelwerk. Bei dem einen sind die Regeln so, bei dem anderen wieder anders. In England wendet der Lehrer nur ein bestehendes Regelwerk an, so wie der Polizist die Straßenverkehrsordnung.
Nach sechs Monaten Aufenthalt in England ist die gesamte Störung behoben. Die Jugendlichen sind lernwillig, wissbegierig, haben eine gute Arbeitshaltung, eine Gewissensinstanz, weisen Empathie auf und denken zukunftsorientiert, indem sie genau beschreiben können, was sie werden wollen und wie sie leben wollen. Ihre emotionale und soziale Psyche befindet sich damit auf einem ihrem Alter entsprechenden
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