SOS Kinderseele: Was die emotionale und soziale Entwicklung unserer Kinder gefährdet - - und was wir dagegen tun können (German Edition)
müssen wir den Befund akzeptieren: Heute kommen aus den Familien nicht mehr überwiegend altersgemäß entwickelte Kinder in die Kindergärten und Schulen, das Gegenteil ist der Fall. Wir müssen verstehen, dass diese scheinbar unerzogenen, unwilligen oder leistungsverweigernden Kinder in Wirklichkeit Kinder mit Entwicklungsverzögerungen im Bereich der emotionalen Psyche sind. Wer diesen Befund versteht und akzeptiert, dem fällt es leichter, eine im Vergleich zum momentanen Zustand neue, veränderte Rolle von Kindergarten und Schule zu fordern und entsprechend zu definieren.
Erzieherinnen und Lehrer müssen in ihrer Ausbildung neben dem pädagogischen Rüstzeug tiefgehende Kenntnisse in der Entwicklungspsychologie vermittelt bekommen. Dann sind sie in der Lage, wirklich zu verstehen, wie sich die menschliche Psyche im Kindes- und Jugendalter bildet und welche Umstände dazu beitragen, diese Entwicklung zu befördern oder zu behindern.
Ich halte außerdem die verpflichtende Einführung eines Vorschuljahres für unerlässlich. Meine Vorstellungen von vorschulischer Arbeit sehen etwa so aus: Hier müsste es ganz konkret darum gehen, dass auf der Basis entwicklungspsychologischen Wissens die emotionale und soziale Kompetenz von Kindern gestärkt wird. In diesem Vorschuljahr müssten die Lehrer so arbeiten, dass eine homogene Gruppe von etwa acht bis zwölf Kindern in die Grundschule übergeht, mit der der Grundschullehrer vom ersten Tag an wirklich Unterricht machen kann, weil die grundsätzlichen Abläufe in der Klasse funktionieren. Die Schüler würden in diesem Vorschuljahr also nicht dazu erzogen, sich angemessen zu verhalten, sondern sie bekämen die Gelegenheit, sich altersgemäß zu entwickeln. Wenn diese Entwicklung vorhanden ist, verhalten sie sich automatisch angemessen.
Bisher muss diese Leistung wie bereits gesagt von den Lehrern im ersten Schuljahr zusätzlich erbracht werden. Manche Schulen und Lehrer sehen das durchaus, und sie erzielen dadurch Erfolge, dass sie sich ernsthaft Gedanken darüber machen, wie sie entgegen den herrschenden pädagogischen Konzepten ihre Klasse in die Lage versetzen, dem Unterricht effektiv zu folgen.
Ich möchte das anhand eines Beispiels erläutern, das auch vor dem Hintergrund der derzeitigen Diskussion über Inklusion interessant ist, denn es handelt sich hier um eine sogenannte Integrationsklasse, in der bereits auffällige Kinder mit unterrichtet werden. Der Direktor dieser Grundschule berichtet in einer Mail:
»Die Klassenstärke lag beim Schuleintritt vor zwei Jahren bei etwas mehr als zwanzig Kindern. Die Klassenlehrerin erhielt damals intensive Unterstützung durch einen Sonderpädagogen. Auffällig waren in der Klasse allerdings bei Weitem nicht nur die Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf.
Ein großer Teil der Kinder der damaligen 1a war über einen längeren Zeitraum zunächst nicht in der Lage, dem Unterricht zu folgen oder Arbeitsaufträge angemessen auszuführen. Auch kam es zu vielen Unterrichtsstörungen durch verschiedene Kinder, in diesem Fall hauptsächlich Jungen. Um der Klasse besser gerecht werden zu können, teilten wir sie in den Kernfächern Mathematik und Deutsch in zwei gleich große Gruppen. Im Fach Deutsch war die Hälfte der Kinder etwa nach den Herbstferien in der Lage, zunehmend selbstständig ihre Aufgaben zu bearbeiten. Die zweite Gruppe wurde im Verlauf des ersten Schuljahres immer kleiner, da es auch hier immer mehr Kinder schafften, bei immer gleichen Abläufen, ihre Aufgaben zunehmend selbstständig, ohne immer wiederkehrende Erklärungen, zu bearbeiten. Den Kindern, denen dies nicht gelang, konnte durch die Doppelbesetzung weiterhin geholfen werden. In Mathematik wurde die Klasse in zwei unterschiedliche Leistungsgruppen unterteilt. Die eine Hälfte hatte eine langsamere und geringere Auffassungsgabe im mathematischen Bereich, die andere Gruppe konnte schneller und auf höherem Niveau arbeiten. Auch in Mathematik wurde die schwächere Gruppe mit der Zeit etwas kleiner und hatte dadurch eine intensivere Betreuung.
In den Zeiten, in denen die Klasse geteilt war, waren Unterrichtsstörungen stark reduziert. Probleme bereiteten die restlichen Stunden, die zum größten Teil auch ohne Doppelbesetzung stattfanden. Hier reagierten wir unter anderem mit einer entsprechenden Sitzordnung, bei der die Jungen, die zu störendem Verhalten neigten, möglichst weit auseinandergesetzt wurden und Einzeltische bekamen. Da diese Kinder
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