Soul Beach 1 - Frostiges Paradies (German Edition)
dass ich einem Mordverdächtigen einen Überraschungsbesuch abstatten will.
Scheiße.
Der Zug fädelt sich zwischen den Hochhäusern der Canary Wharf hindurch, eine Kulisse, die mir weniger real vorkommt als die Strandhütten am Soul Beach. Ich schminke mich noch schnell etwas stärker, um älter zu wirken.
Ich denke an das, was Caras blöder Extyp im Pub gesagt hat: Er hätte nie gedacht, dass Meggie meine Schwester sei. Ich muss lachen, denn wie viele Jahre lang bin ich jeden Morgen in der Hoffnung aufgewacht, meine Augenfarbe hätte sich über Nacht von Taubengrau in Babyblau verwandelt oder mein Haar sich von selbst geglättet, sodass es wie ihres aussähe.
Heute bin ich zum ersten Mal froh darüber, unscheinbar zu sein.
»Eine Weißweinschorle, bitte.«
Der Barkeeper mustert mich abschätzend. Trotz des vielen Kajals und der Wimperntusche und dem ganzen Mist, den ich dieses Jahr durchgemacht habe, sehe ich immer noch aus wie ein Schulmädchen, das keine Ahnung von gar nichts hat – es sei denn, man rechnet Medienwissenschaft für die zehnte Klasse dazu.
Aber ich kann unmöglich die Einzige hier sein, die noch nicht alt genug zum Trinken ist und es trotzdem tut: Das hier ist der Pub, in dem Meggie und ich uns mit ihren Freunden getroffen haben, wenn ich sie besucht habe, und damals waren auch immer jede Menge Teenager aus der Schule um die Ecke hier. Ich bin hergekommen, weil ich noch nicht bereit bin, Tim gegenüberzutreten. Zuerst muss ich mir noch ein wenig in Erinnerung rufen, wie es zwischen ihm und Meggie war, und mich für das wappnen, was ich zu tun habe. Normalerweise trinke ich nie tagsüber, also reicht der Wein vielleicht aus, um mir genug Mut für mein verrücktes Vorhaben einzuflößen.
Schließlich zuckt der Barmann mit den Schultern und wendet mir den Rücken zu, um meinen Drink einzuschenken. Die Kohlensäure in der Schorle wird den Geschmack des Weins hoffentlich ein wenig dämpfen und so oder so schmeckt alles besser als diese Angst.
»Eis?«
Ich nicke. Er stellt das Glas vor mir ab und ich sehe die kleinen Risse in den Eiswürfeln und die Feuchtigkeit, die von ihnen aufsteigt.
»Sag stopp«, fordert er mich auf, als er den Wein mit Wasser aus der Sodaflasche auffüllt. Ob er wohl auch an dem Abend hier gearbeitet hat, als meine Schwester starb?
»Stopp.«
»Dein erstes Semester?«
Ich starre ihn an. »Äh … genau. Entschuldigung, aber ich hab stopp gesagt!«
Hat er mich etwa erkannt?
Er sieht hinunter auf das überlaufende Glas. »Hoppla.« Er schiebt es näher zu mir. »Macht dann drei fünfzig. Ach was, sagen wir drei. Das Wasser da drin geb ich dir aus.«
Mein Mund klappt auf. »Oh. Danke.«
»Was studierst du denn?«
Ich schlucke. »Ähm. Medienwissenschaft.«
Er grinst. »Cool. Dann sehe ich dich wohl bald im Fernsehen, was?«
Oh Gott, er versucht mich anzubaggern. Und ich dachte, er mustert mich so, weil ich minderjährig bin oder weil er weiß, wer ich bin. Bis zu diesem Moment habe ich ihn noch gar nicht richtig angeguckt. Vielleicht zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig. Helles Haar, offenes Gesicht. Sieht nett aus. Ich wette, er ist ziemlich witzig. Spielt sonntags Fußball. Mag Comedy und Stadion-Rock.
Bevor es passiert ist, hätte ich ihn vielleicht gar nicht übel gefunden. Auf jeden Fall wäre ich geschmeichelt gewesen – Barkeeper haben diese gewisse Selbstsicherheit und natürlich die Machtposition, die zumindest Cara unwiderstehlich findet. Aber jetzt gibt mir das alles nichts mehr.
»Nicht im Fernsehen, nein. Ich bin mehr so der Hinter-den-Kulissen-Typ.«
Ich nehme mein Glas und gehe hastig weg.
»Hey, Blondie!«, ruft er mir nach.
Ich suche nach einem Weg, ihm eine Abfuhr zu erteilen. Meggie hatte dafür immer einen guten Spruch auf Lager, der den Jungs klarmachte, dass sie keine Chance bei ihr hatten, aber sie trotzdem mit einem Lächeln im Gesicht zurückließ.
Mir fällt absolut nichts ein.
Ich drehe mich um.
»Du hast dein Wechselgeld vergessen.«
Ich nehme meinen Drink mit nach draußen. Die Bänke sind feucht von den vergangenen Regenschauern, aber hier an der Biegung der Themse scheint die Sonne heller als zu Hause. Ich sehe die schicken Türme der Wolkenkratzer auf der anderen Seite des Flusses und rechts den Millennium Dome. Das war Meggies Lieblingspub und sie war so gern in Greenwich. Es ist wirklich schön hier, aber die majestätischen Kalksteingebäude des Old Naval College und seine leuchtend grünen Rasenflächen scheinen nun
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