Soul Beach 1 - Frostiges Paradies (German Edition)
selbstsüchtiger Wunsch, meine Schwester dort zu halten, wo sie ist – wo ich sie sehen und mit ihr sprechen kann –, muss dahinter einfach zurückstehen.
Sie formt mit den Lippen lautlos »Danke« und klatscht dann in die Hände, sodass die anderen sich umsehen. »Tja, ihr Lieben, ich würde mal sagen, die Show ist so gut wie vorbei, also wie wär’s, wenn wir vor der Sperrstunde noch auf ein Pint im guten alten Pub vorbeigucken?«
Die anderen lachen über ihren übertriebenen Londoner Akzent, stehen auf und machen sich auf den Weg Richtung Strandbar. Ich zögere noch.
Bin ich ein Feigling, weil ich nicht von allein zu Tim gegangen bin? Nein, das ist es nicht, vor körperlicher Gefahr habe ich keine Angst. Auf gewisse Weise wäre ich sogar fast erleichtert, wenn Tim mich angreifen würde, weil ich dann wenigstens mit Sicherheit wüsste, was für ein Mensch er wirklich ist. Und eine Antwort auf die Frage bekäme, die seit sieben Monaten alles andere überschattet: Wer hat meine Schwester getötet?
Während ich zusehe, wie Meggie sich immer weiter von mir entfernt und schließlich in der Bar verschwindet, ergreift mich plötzlich ein Gefühl von Verlust, und da wird mir klar, dass ich Tim aufsuchen muss, egal, wie sehr ich mich vor einem Leben ohne sie fürchte.
Wenn man jemanden liebt – wirklich liebt –, dann ist man bereit, seine eigenen Bedürfnisse für die des anderen zu opfern.
Es wird eine harte Prüfung werden. Ich hoffe nur, ich habe genug Kraft, um sie zu bestehen.
Ich drehe mich wieder zum Meer um und sehe, dass ich nicht allein hier bin. Triti ist auch noch da. Sie starrt in den Himmel hinauf, der von all dem Schwarzpulver eine seltsam rostfarbene Tönung angenommen hat.
Die anderen lachen und plaudern in der Bar. Das Feuerwerk scheint alle fröhlicher gestimmt zu haben. Mir ist nicht danach, mich zu ihnen zu gesellen, also sage ich Gute Nacht. Aber jetzt liege ich im Bett und es ist, als wären sie immer noch bei mir.
Ich denke an Triti und Danny und Javier. Aber vor allem an Meggie und Tim.
Und ich frage mich, ob ich es wirklich ertragen könnte, meine Schwester loszulassen …
33
Eigentlich bin ich keine Schulschwänzerin.
Und Cara ist es, trotz ihrer rebellischen Art und der frechen Widerworte, genauso wenig, also kann ich sie nicht bitten mitzukommen. Für eine Amateurin wie mich ist das Risiko aufzufliegen momentan ziemlich hoch: Die Lehrer haben mich wegen meiner verschlechterten Noten sowieso schon auf dem Kieker, dieser Gruseltyp Olav ist ganz heiß auf meine Neurosen und Mum plant mit Sicherheit schon wieder ein weiteres tiefschürfendes Gespräch über meine Zukunft. Als würde mich die auch nur die Bohne interessieren.
Trotzdem, ein paar Stunden Nachsitzen sind meine geringste Sorge, verglichen mit meinem Vorhaben, den Hauptverdächtigen im Mordfall meiner Schwester zu konfrontieren.
Darüber denke ich besser nicht zu genau nach.
Statt zur Schule zu gehen, schleiche ich mich durch die Seitengassen, in denen keine von Mums Freundinnen wohnen. Ich gehe nicht zur nächsten U-Bahn-Station, sondern eine Haltestelle weiter und steige erst dort in den Zug. Ich setze mich im vordersten Wagen gegen die Fahrtrichtung und verschanze mich hinter einer eselsohrigen Ausgabe der Metro. Als sonst niemand einsteigt, lasse ich die Zeitung sinken und sehe zu, wie draußen die Welt vorbeizieht. Es hat geregnet, was die Braun- und Grautöne der Ziegelhäuser und Straßen nur noch deprimierender wirken lässt. Der Winter ist schon fast da und ich habe so das Gefühl, als würde es der längste meines Lebens werden.
Schon jetzt sehne ich mich nach dem Strand, obwohl ich vor zwei Stunden noch dort gewesen bin. Meggie habe ich irgendeine Geschichte aufgetischt, warum ich später vielleicht nicht kommen kann, anstatt mit meinem Ausflug nach Greenwich zu große Hoffnungen in ihr zu wecken. Im Moment kann ich mir nämlich nicht vorstellen, dass er anders enden wird als in einer Katastrophe.
Aber ich muss es trotzdem versuchen. Ich habe es Meggie versprochen. Außerdem ist sie nicht die Einzige, die Antworten braucht.
Als ich in den Minizug Richtung Cutty Sark steige, fange ich an zu zittern. Ich hatte eigentlich beschlossen, Tim nicht Bescheid zu sagen, dass ich komme, für den Fall, dass er dann untertauchen würde. Aber wie wird er reagieren, wenn ich plötzlich vor seiner Tür stehe? Selbst Cara, die nichts mehr liebt als ein bisschen Risiko, hätte wohl das eine oder andere dazu zu sagen,
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