Soul Kitchen
sogar die Lippen aufspritzen lassen. Als Lady Di hatte sie zum ersten Mal Erfolg gehabt – wäre sie bloß früher drauf gekommen. Ein paar Monate später, im Sommer 97, kehrten Anita und Tiamo zurück, und sie versuchte es nie wieder.
Jedes der Mädchen im Jeanny’s sammelte etwas, da Linde bestimmt hatte, dass jede, die bei ihr arbeitete, zum seelischen Wohl irgendein Hobby brauche. Linde selber sammelte alles über Falco, Steffì sammelte Schwarzlichtbirnen, Inez Swatch Uhren, Ilonka Bücher, die davon handelten, wie jemand seine Drogensucht überwindet, Juliane Duftradiergummis, Trinidad holografische Postkarten, Anita Fotos, auf denen sie unscharf war, Kiki Zeitungsartikel über Menschen, die im Urlaub gestorben waren. Jennifer sammelte Schneekugeln.
An der Bar war nicht viel zu tun, trotzdem machte Zinos meist die Getränke, da Toto mehrmals am Tag ohne ein Wort einfach verschwand. Toto rauchte und kiffte den ganzen Tag und trank dazu Sekt mit Ascorbinsäure. Er war sehr dünn. Zinos verstand nicht, wie man bei so großer Angst vor dem Tod so ungesund leben konnte.
Linde sagte einmal, Toto fürchte sich nicht vor dem Tod, sondern vor dem Leben – und vor Gedanken darüber, was man daraus machen könne, und er lenke sich mit neurotischen Zwangsvorstellungen über die eigene Endlichkeit ab. Toto trug immer Stretchjeans und zu große weiße Unterhemden. Wenn er fror, zog er einen schwarzen Kapuzenpullover an , der ihm bis zu den Knien ging. Vor Sex ekelte Toto sich schon seit Mitte der Achtziger, wie er Zinos gleich bei der ersten Zusammenarbeit ungefragt erzählt hatte.
Zinos wurde den Eindruck nicht los, Linde und Toto seien, auf welche Weise auch, immer ein Paar. Das hätte vor allem erklärt, warum Toto bleiben durfte. Abgesehen von seiner Unfähigkeit zu arbeiten, neigte er dazu, alles Mögliche in Brand zu stecken. Allein in seinem ersten Jahr bei Linde hatte Zinos über ein Dutzend von Totos Bränden im .Jeanny’s gelöscht.
Toto spielte häufig gedankenverloren mit Streichhölzern oder Feuerzeugen, kokelte dieses und jenes Lose oder Feste an und roch dann verträumt an den schwarzen Stellen, wobei seine Pupillen vollständig unter den Augenlidern verschwanden und die Lider zu zittern begannen. Manchmal fiel ihm während einer Kokelei plötzlich irgendetwas anderes ein. Dann ließ er die brennende Sache einfach liegen oder fallen.
Überall im Jeanny’s standen Eimer mit Wasser, wie unter Weihnachtsbäumen.
Vor der Bar gab es einen Swimmingpool; in den schubste Zinos Toto einmal, als ein Bündchen seines Kapuzenpullovers brannte. Zinos hatte Toto schreien hören, und als er aus der Küche an die Bar kam, stand Toto einfach nur da und schrie immer schriller, er haute nicht einmal auf dem brennenden Pullover herum, wie ein Mensch mit gesunden Reflexen es getan hätte. Nachdem Zinos ihn ins Wasser gestoßen hatte, tauchte Toto lange nicht auf, schnappte kurz nach Luft, ging wieder unter und ruderte unter Wasser wild mit den Armen. Zinos erstarrte vor Schreck. Die Mädchen waren aus ihren Zimmern gekommen. Jennifer zog ihn mit einem Ruck aus dem Pool – in dem man stehen konnte. Toto weinte in ihren Armen wie ein Kind, bis Linde kam.
Der Pool war eher ein Wasserloch, schwimmen konnte man darin nicht, man konnte sich von einer zur anderen Seite hin und her stoßen. In den Separées war es immer schummrig, nur das Wasserloch leuchtete türkis.
Es gab ein Zimmer im Jeanny’s , in dem man übernachten konnte, wenn es zu Hause Probleme gab. Toto hatte wochenlang dort gewohnt, nachdem man ihn aus der Wohnung geworfen hatte, weil er seinen Balkon abgefackelt hatte.
Ab Februar 1998 begann Toto regelmäßig zu lächeln; er lächelte immerzu, nur wenn er kokelte, fiel er immer noch in diese abwesende Starre. Einmal bekam Zinos mit, wie er Anita erzählte, er habe den Falco-Starschnitt verbrannt und dabei einen Fluch ausgesprochen. Toto hatte nämlich einen Bekannten namens Palomo gehabt, der stammte von einer karibischen Insel namens Adios. Als Palomo im Sterben lag, verriet er Toto den Fluch – mit dem Verweis, ihn nur mit Bedacht anzuwenden. Kurz darauf kam Falco bei einem Autounfall in der Karibik ums Leben. Toto war so glücklich darüber, dass man ihn allein dafür hätte anzeigen sollen.
Sonst unternahm er nie irgendwas, aber nach diesem Ereignis war er so beflügelt, dass er im Sommer allein zur Loveparade nach Berlin reiste. Er kam erst einen Monat später zurück, und seitdem wirkte er seltsam
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