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Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)

Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)

Titel: Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Dutli
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auftaucht.
    Alle Zimmer sind leer. Hastig läuft er zum Fenster zurück, wo er Gerschen und Tamara gesehen hatte. Aber auch diese Szene ist plötzlich verschwunden. Da draußen gibt es nur noch die gleichgültigen Scheinwerfer und dieses unendliche Schneien. Nein, da steht noch der verlassene schwarze Lieferwagen im Rieseln der Scheinwerfer, er hatte die Szene nicht geträumt.
    Der Maler will schreien, das Fenster öffnen und brüllen wie ein Tier, aber der Schrei wird ihm von dieser weißen Öde in den Rachen gestoßen, kein Ton ist hörbar, er schluckt hart und taumelt vom Fenster weg. Das scheinheilige weiße Paradies ist zerbrochen, diese stille Beglückungsklinik voller Phrasen von Doktor Bog, mit dem unsichtbaren Doktor Kno im Hintergrund, mit Doktor Ohrmann und seinen säuselnden süßen Pfeiftönen, der Livorno liquidiert hatte. Die Klinik, die zu heilen vorgab und die furchtbare Szene im Hof zuließ.
    Und der Maler Chaim Soutine geht noch in derselben weißschimmernden Nacht in den Heizungskeller, räumt den muffigen Wandschrank mit den Malabfällen aus, legt von neuem alle zerdrückten Tuben vor sich hin und prüft, wie viel Farbe sie noch enthalten, wozu sie reichen würden. Er hat sparsam zu sein und vorsichtig, damit er nicht entdeckt wird. Aber sein Plan ist klar: Er will wieder malen, das Verbot von Doktor Bog hintergehen. Er hat genug gesehen von seinem schneeweißen Gefängnis, in dem es nur dieses schmutzige Refugium mit den Abfällen hinter den Heizungsrohren gibt.
    Er hatte verstanden. Die Szene mit den misshandelten Gestalten, die Gerschen und Tamara glichen, die Erzählung des fremden Patienten vom Minsker Ghetto und den
Duschegubki
, Livornos Urne mit der weißen Asche und die entsetzliche Leere des Raumes, wo die Kinder und Zuckerbäckerjungen sich zur Verschwörung gegen Doktor Bog versammelt hatten und ihn, den Maler Chaim Soutine, wieder zum Malen anstiften und ermuntern wollten – all das hatte ihn aufgeweckt aus einer schmerzfreien Gleichförmigkeit. Er hasst jetzt sein zerbrochenes weißes Paradies.
    Und er beginnt im Keller zwischen den Heizungsrohren wieder seine alten Rituale. Erst zögernd und tastend, dann aufgewühlt, dann allmählich mit der alten schmerzhaften Besessenheit und Raserei. Ja, der Schmerz schien in ihn zurückzukehren, und er war bereit, ihm zu antworten. Er krümmte ihn wieder, ließ ihn aufzucken, unter der Schmerzfaust winseln. Er war geheilt von der Schmerzlosigkeit.
    Es ist ein neuer Anfang. Er malt nicht die Pagen und Kochlehrlinge, nicht Charlot und nicht die Erstkommunikantin, nicht die verlorenen Kinder und Mütter, weder die taumelnden Hügel von Céret noch die auffliegenden Straßen von Cagnes, nicht die schiefe Kathedrale von Chartres. Er malt auch nicht den Gott in Weiß vor einer schneehellen Leinwand, nicht den im Hintergrund versteckten Doktor Kno und nicht den ziegenbockigen Doktor Ohrmann in seinem weißen Bademantel. Ein späterer Betrachter hätte sagen können: Es ist nichts darauf, nichts zu sehen. Die bloße weiße Leere.
    Er malt jetzt – sich selber, wie er in seinen lichtweißen Laken liegt, die Beine zugedeckt und die Hände zusammengelegt auf der Bettdecke, die Finger mit ihren farbgeränderten Nägeln schön ineinander geschoben, scheinbar fromm gekreuzt. Auf der Bettdecke liegen Gladiolen. Die flammendroten Gladiolen, die er einst in Céret 1919 in ihren besessenen Zuckungen erkannt hatte. Sie sind wie flammende Fleischwunden, wie zuckendes Blumenfleisch. Blutende Blumen, wie durchgebrochene Magengeschwüre.
    Er malt sich mehrmals im Bett mit den Blumen. Nein, es soll nicht sein Totenbett sein, sondern sein Bett in einem weißen Paradies, wo endlich die glutroten Gladiolen zugelassen sind. Nicht mehr das Land der Milch, sondern das freie Land der Farben. Aber er war abhängig von den wenigen Farbresten, die sich aus den zurückgelassenen, gequetschten Tuben wringen ließen. Viel war es nicht mehr. Er malt sich in Rage wie früher, wirft nach jedem Farbauftrag den Pinsel hinter sich, kriecht auf allen vieren herum unter den Heizungsrohren, um sie wieder aufzusammeln. Er fiebert und flucht, verdammt die Leinwand – und findet endlich wieder in sein wahres und richtiges Leben zurück, zur Farbe, zum Auftrag der Materie, zur richtigen Wunde, zum einzigen Glauben, den es für ihn noch gab. Die Farbe ist unversöhnlich. Die Farbe ist die letzte Nachricht von der umfassenden Heillosigkeit. Sie ist die pure Rebellion gegen Doktor Bog.
    Was

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