Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)
Gott, war es Tamara, Gerschens Frau? Sie glaubt die Misshandlung stoppen zu können, doch jetzt wird sie selber mit Reitpeitschenhieben traktiert, die Peiniger reißen ihr die Kleider von ihrem mageren Körper und zerren sie hinter den Lieferwagen. Was dort mit ihr geschieht, sieht der Maler so genau, als könnte er durch den schwarzen Wagen hindurchsehen.
Er trommelt mit beiden Händen gegen das massive Fenster, das sich nicht öffnen lässt, er schreit laut, doch die Scheiben sind zu dick, als dass irgend ein Ton nach draußen dringen könnte. Er erinnert sich plötzlich an eine Begegnung im Wartezimmer eines Arztes, vielleicht war es bei Gosset, den er bei einer seiner geheimen Fahrten nach Paris aufsuchte, um neue Medikamente für sein Magengeschwür zu bekommen. Ein ebenfalls Wartender sprach ihn unvermittelt und beinah vertraulich an. Er hatte den Maler erkannt. Sie waren plötzlich allein im leeren Wartezimmer.
Dennoch erzählte er flüsternd, was dort geschehen war. Im Juli 41 wurden sein Bruder Gerschen, Tamara und ihre Tochter von den Einsatzgruppen in Beresino ermordet. Der Maler zitterte und wollte mehr wissen, doch der merkwürdige fremde Patient wusste nicht oder gab vor, nicht zu wissen, ob die Eltern und die andern Geschwister dem Blutbad entgangen waren. Wo sind Sarah und Solomon, Jankel, Ertl, Nahuma und die andern? Wie schwierig war es, aus den zensierten französischen Zeitungen etwas zu erfahren. Über Radio BBC kamen Neuigkeiten von den Geschehnissen im Osten, aber wie konnte der Maler sich aus den kleinen Fetzen ein Bild machen? Er tastete mit seinem Gehör fiebrig die Meldungen ab nach Namen, die er kannte: Bobruisk, Borissow, Beresino, Baranowitschi, auch Slonim und Sluzk. Aber sie waren zu klein, um im großen Weltgeschehen aufzufallen. Die Wehrmacht ist, das war zu erfahren, am 28. Juni 41 nach schweren Bombardierungen in Minsk einmarschiert, das
Reichskommissariat Ostland
wird am 25. Juli gebildet, um zwölf Uhr mittags. Der Tod teilt Ostland hastig in große Stücke, im
Generalbezirk Weißruthenien
aber lag auch ein Ort namens Smilowitschi. Wo sind Sarah und Solomon, Jankel, Ertl, Nahuma und die andern? Die Einsatzgruppen B sind ehrgeizig und unersättlich, bis zum Ende des blutigen Jahres 41 sind unzählige Dörfer und Schtetl ausgelöscht.
Der Wartende erzählt dem Maler Chaim Soutine flüsternd vom Minsker Ghetto, von den Lagern Drosdy und Tutschinka und Maly Trostinez, vom entsetzlichen Gemetzel auf dem Jubilejnaja-Platz im Juli 42. Er traut seinen Ohren nicht, schüttelt nur langsam und ungläubig den Kopf, als der unbekannte Patient von geschlossenen schwarzen Wagen erzählt, die im Ghetto auffuhren. Er nannte sie mit dem russischen Namen:
Duschegubki
. Der Fremde erklärte ihm, was mit den Gaswagen gemeint war, in die Tausende gepfercht wurden. Und was die Jama bedeutete, die große Grube vor der Stadt. Sie treiben sie brüllend und fluchend aus den Häusern, befehlen, ihre Kleider auf einen Haufen zu legen, prügeln sie an den Rand der Jama, Genickschuss oder Brustkorb, ein Kommando läuft herbei, schüttet mit groben Schaufeln hastig Kalk und Erdreich darüber, aus denen noch Schreie und Stöhnen kommen, von denen, die es nicht geschafft haben, schnell genug zu sterben. Woher wusste der Fremde davon, wie kamen die Nachrichten bis nach Paris? Der Maler will den merkwürdigen Patienten ausfragen, doch der erhebt sich plötzlich und verschwindet im Behandlungsraum, und der zitternde Maler bleibt allein im Wartezimmer zurück. Wo sind Solomon und Sarah, Jankel und Ertl, Nahuma und die andern?
Plötzlich springt der Maler vom Fenster zurück und läuft ins obere Stockwerk, wo er die Verschwörung der Konditorjungen mitangehört hatte, panisch öffnet er alle Türen, die in Frage kommen. Alle sind leer. Sie waren nicht mehr da. Er erinnert sich an eine seiner gefährlichen Fahrten nach Paris, an die Frau, die schluchzend auf die Straße lief, ihn mit Monsieur Epstein ansprach und ihn fragte: Was machen sie mit den Kindern? Warum werden auch sie deportiert?
Dem Maler zuckt es durch den Kopf: Hatte Doktor Bog die Verschwörung aufgedeckt, hatte er die Kinder deportieren lassen? Aber nein, sie wurden doch schon im August 42 ihren Eltern hinterher geschickt. Er kannte die Routen aus den allgegenwärtigen Gerüchten, von Drancy und Compiègne oder von Pithiviers und Beaune-la-Rolande über Laon, Reims und Neuburg in den Osten, an einen Ort in Polen, dessen Name bald immer wieder
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