Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)
war und was er danach ihrer Durchtriebenheit wieder entreißen konnte: Alles war da! Nichts war verloren, gar nichts. Aufgehoben bis – zum Jüngsten Tag? Er geht langsam seine Leinwände durch und erinnert sich an seinen maßlosen Zorn, der ihnen zum Verhängnis wurde. Wer konnte Interesse an diesen Abfällen und Unfällen haben, wem konnten sie noch von Wert sein, wenn er sie längst verleugnet hatte? Wer hatte sie gestohlen und geborgen, damit er sie hier wiederfände? Was waren das für himmlische Diebe der Bewahrung, der Unversehrtheit?
Er versteht diesen weißen Ort immer weniger, wo man ihm seine Heilung versprach und tatsächlich gewährte, wo man ihm die Schmerzfreiheit schenkte, aber das Malen strengstens untersagte und zugleich Gemälde aufhob und sammelte, die er längst der Vernichtung zugeführt hatte.
Er erwartet von sich selber, dass er in eine gewaltige Wut ausbrechen und wild und zornig zu Doktor Bog laufen wird, um sich über diesen Frevel der Wiederherstellung zu beschweren. Zu seinem Erstaunen jedoch bleibt er ruhig und gelassen. Haben sie ihm sedierende Medikamente verabreicht? Der Gott in Weiß war in diesen vielen Gängen ohnehin nicht aufzufinden, und er hatte sich seit dem Gespräch über den besonderen Saft des Blutes nicht mehr gezeigt. Er war nicht mehr an sein Bett getreten mit jenem geheuchelten Interesse, das alle Ärzte einüben, oder dann mit geschwellter Brust und voller Stolz über die fabelhafte Heilung. Er kam nicht mehr.
Der Maler geht verwirrt hinaus und steigt auf der Treppe in die Untergeschosse hinunter, öffnet dort einen zufälligen Heizungsraum, staunt über die Vielzahl dicker und dünner Rohre, hört auf ihre matte Musik, atmet den süßlich staubigen Geruch. Geräusche fahren träge hin und her durch die Räume, beschleunigen sich und beruhigen sich wieder, ein Brausen und Pfeifen, Knacken und Kurbeln, das sich plötzlich selbst besänftigen will. Dann quietscht es, und er zuckt zusammen, fühlt sich gerade von diesem Geräusch ertappt.
Der Maler verläuft sich in diesem unterirdischen weißen Dschungel von Heizungsrohren. Er öffnet geistesabwesend mehrere helle Wandschränke, findet sie leer vor, öffnet noch einen und zuckt zurück. Ein scharf riechender Abfall war hier hineingeschüttet worden, sein Auge unterscheidet zunächst nur metallene Töne und gestauchte Formen, dann erkennt er deutlich, was er erkennen muss. Es sind Farbtuben, verdreht und gequetscht, malträtiert von einer ungeduldigen Malerfaust, verklebte Pinsel und Spachtel, kaputte Leinwände. Eine riesige Mülltonne, achtlos in den großen Schrank gekippt von wer weiß wem. Er weiß zunächst nicht, ob er Freude oder Schmerz empfinden soll, spürt zunächst gar nichts als diese wattige träumende Verwunderung.
Aber er beginnt dennoch, fast wie ein Automat, den Farbenmüll langsam Stück für Stück aus dem Kasten zu heben wie einen Schatz aus einem Schiffsbauch, der jahrzehntelang unter Wasser verrottete, besucht von verständnislosen Fischen, von Rochen, von grauem Unterwassergetier. Er legt die verklebten Pinsel aus, die metallenen Farbtuben mit ihren gequetschten Bäuchen und farbigen Bauchbinden, die Leinwände mit ihren Geschwüren, dem zerrissenen Gewebe, den Löchern, den Striemen. Er legt sie auf dem Boden des Heizungskellers aus, als ob der ganze Müll geduldig darauf gewartet hätte, dass er ihm eine Ordnung gebe. Eine sinnlose Verrichtung in diesem Verlies, in diesem Paradies, in dem das Malen verboten war, in dem Malen nur zerschlissenes Gerät bedeutete, nur Abfall, den man irgendwem abgenommen und beschlagnahmt hatte, und den man irgendwohin kippte samt den scharfen Terpentingerüchen, dem Gemisch aus Moder und Filz und stinkendem nassem Leinen.
Als es besonders laut knackt in einem der Rohre, zuckt der Maler zusammen, packt den sorgsam sortierten Malmüll hastig zurück in den Schrank, steht rasch auf, blickt sich um. Niemand da. Niemand? Er spürt irgendeine Gegenwart im Raum, doch tut er so, als ob er jetzt langsam, unbesorgt aus dem Heizungskeller schlenderte. Zurück auf der Treppe, beschleunigt er seine Schritte, steigt hinauf und gelangt auf seinen, den richtigen Gang zurück. Er steuert mit Bestimmtheit auf sein Zimmer zu, sein Gehirn hatte die Distanzen bereits vermessen, er weiß, wo er sein schneeweißes Bett wiederfinden würde.
Doch da steht etwas vor seiner Zimmertür auf dem Boden, ein weißer Topf. Er denkt an einen Nachttopf, doch als er näher kommt, sieht er,
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