Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)
dass es eine weiße Dose ist auf einer kurzen, schlanken Konsole. Ein schmaler Strich knapp unter der Kopffläche lässt ihn an einen Deckel denken. Er hebt den Gegenstand, der genau vor seinem Zimmer steht, verwundert zu sich empor und schraubt langsam den Deckel auf.
Eine Urne! Das Wort schießt ihm durch den Kopf.
Im Innern kräuselt sich eine schneeweiße Asche.
Plötzlich erklingt aus der Weite, vom Ende des Flurs her, eine greisenhafte, leicht näselnde hohe Stimme. Der Maler schraubt den Deckel wieder auf die Urne und stellt sie neben die Tür seines Zimmers auf den Boden.
Der arme Doktor Livorno! ruft jetzt die Stimme von weither.
Der Maler kann eine weiße Gestalt erkennen, aber keine Züge eines Gesichts, es war auf diese Distanz nur eine weiße ovale Fläche. Vielleicht ein Arztkittel, vielleicht etwas Glänzendes dazu, vielleicht eine Brille. Als der Maler den Blick auf die Dose senkt und darauf noch einmal in den Flur späht, steht die Erscheinung nicht mehr da.
Dafür hört er gleich hinter seinem Rücken dieselbe Stimme, die bei jedem Wort einen Pfeifton, etwas Säuselndes, einen Überschuss an S-Laut von sich gibt. Es zischelt und fispelt aus diesem Mund. Den Maler überläuft eine Gänsehaut. Ein älterer Herr steht da, nicht im Arztkittel, sondern in einem weißen Bademantel, der sich über einem stattlichen Bäuchlein wölbt, und mit weißen flauschigen Pantoffeln an den Füßen. Etwas untersetzt, hatte er das Gesicht eines Ziegenböckleins. Er spricht nach einem salbungsvollen Seufzen den Maler an, lächelt jovial und süßlich-giftig und zeigt dabei auf die Urne:
Ach, der gute Doktor Livorno! Er war auf seine alten Tage sentimental geworden. Sagte jedem hier irgendeine abstruse Geschichte auf, die keiner hören wollte. Etwas mit Kamelen und Scherben. Er langweilte sich offensichtlich an diesem Ort, der Undankbare. Gleichzeitig schien er überarbeitet zu sein. Leider ertappten wir ihn dabei, wie er in irgendeinem der unteren Korridore wieder zu malen begann, verstehen Sie, das geht nun wirklich nicht! Er hat sich einfach über das Gebot hinweggesetzt und hier wieder sein altes Leben anfangen wollen. Und wissen Sie: Er malte nur nackte Frauen auf Betten und Diwanen. Ekelhaft! Wir haben ihn gewarnt, doch als er sich nicht einsichtig zeigte, mussten wir ihn liquidieren, verstehen Sie, Monsieur Sutinchaim?
Das säuselnde giftige Ziegenböcklein im weißen Bademantel beugt sich hinunter und streichelt versonnen die weiße Urne. Ein bestimmter strenger Geruch ging von ihm aus, ein Gemisch aus Pestwurz und Urin.
Ja, ja, liquidieren. Ach, dieses leichte Häufchen Asche. Und so ein freundlicher Mensch. So etwas kann Ihnen nicht passieren, Sie sind ja geheilt. Der arme Doktor Livorno! Sein Pfeifen hat ihn verraten. Wir finden nämlich Musik zum Ausspeien, wenn sie nicht von uns stammt, und Pfeiftöne erst recht. Sprechen Sie mir jetzt nicht von Bach! Livorno war einfach unvorsichtig. Wir haben hier gerne Ruhe, eine feine Friedhofsharmonie, eine besinnliche Bergstille. Und die Kinder wurden uns auch zuviel, so jung und wollen schon aufbegehren. Wir mussten sie leider entfernen.
Wer sind Sie? stammelt der Maler verwirrt.
Doktor Ohrmann, zu Diensten.
Und das säuselnde Ziegenböcklein entfernt sich lustig hinkend und hüpfend in seinem überhaupt nicht speckigen weißen Bademantel und einer Wolke von süßem Gift. Der Maler blickt ihm verwundert nach. Er hebt sorgsam die Urne mit Livornos Asche auf, trägt sie in sein Zimmer, stellt sie in einiger Entfernung von seinem Bett auf den Fußboden und betrachtet sie lange und nachdenklich.
Kurz danach, während einer neuen Expedition, tritt der Maler Chaim Soutine wieder an das Fenster, wo er zuerst diesen unerhörten Schneefall beobachtet hat und jetzt eine grausame Szene mitansehen muss. Ein völlig nackter Mann wurde von gesichtslosen Wächtern niedergeprügelt, sie tragen schwarze Schirmmützen, Augen waren keine zu erkennen, sie holen aus und stoßen ihm die Stiefelspitzen in den Unterleib, bis er blutig auf die unheimlich weißen Steinplatten erbricht. Dann schlagen sie ihn mit merkwürdigen, niegesehenen Knüppeln über den Kopf. Der misshandelte Mensch hebt plötzlich seine verschwollenen Augen zum Fenster, wo der Maler steht. Der aber schreit auf, als er ihn erkennt: Es ist sein Bruder Gerschen. Im selben Augenblick wird eine Frau aus dem daneben stehenden schwarzen Lieferwagen gestoßen. Sie wirft sich über den blutüberströmten Mann. O
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