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Sozialdemokratische Zukunftsbilder

Sozialdemokratische Zukunftsbilder

Titel: Sozialdemokratische Zukunftsbilder
Autoren: Eugen Richter
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dir die Gesellschaft nicht mehr passt such' dir eine andere, wenn du eine hast.
    Seitdem habe ich natürlich keinen Ton mehr geredet. Franz ist es leider ähnlich ergangen. Die Zeitung dort wird selten zur richtigen Stunde fertig, obwohl um die Hälfte Setzer mehr als früher an einem Bogen arbeiten. Je später der Abend, desto mehr Fässchen Bier sind während der Arbeit schon vertrunken, und desto zahlreicher werden die Druckfehler.
    Als Franz neulich den erkrankten Metteur vertrat und um etwas mehr Ruhe in der Werkstatt höflichst bat, stimmte das ganze Personal die Marseillaise an unter besonders starker Betonung der Worte: Nieder mit der Tyrannei!
    Meister und Vorarbeiter gibt es ja wie früher in den Werkstätten, aber sie werden von den Arbeitern gewählt und wieder abgesetzt, wenn sie den Untergebenen nicht mehr genehm sind. Sie dürfen es daher mit den Tonangebern und mit der Mehrheit nicht verderben. Der einzelne, der wie Franz und ich solche Zucht nicht mitmacht, ist schlimm daran. Ihn malträtieren bald die Kollegen, bald die Meister. Und dabei kann man so wenig aus solcher Werkstatt heraus, wie der Soldat ans der Korporalschaft, in der ihn sein Unteroffizier misshandelt.
    Der frühere Reichskanzler hat das wohl begriffen, aber er hat es nicht ändern können. Das unter seiner Mitwirkung erlassene Strafgesetz gegen Verletzung der Arbeitspflicht ist in jeder Werkstatt angeschlagen, soweit es nicht abgerissen ist. Darin ist für Trägheit, Unachtsamkeit, Fahrlässigkeit, Unfolgsamkeit, Ungebühr gegen Vorgesetzte ein ganzes Register von Strafen angedroht. Die Entziehung der Geldzertifikate, der Fleischportionen, sogar der ganzen Mittagsmahlzeit, selbst Einsperrung im Arbeitshause. Aber wo kein Klüger ist, ist kein Richter.
    Die Direktoren der Werkstätten werden ebenfalls gewählt wie die Meister und dürfen es daher auch nicht mit ihren Wählern verderben. Die Aburteilung im Prozessweg auf Grund des Strafgesetzes ist umständlich. Es sind allerdings neulich einige Maurer aus dem Publikum denunziert worden, weil sie gar zu lange Pausen machten und sich die einzelnen Steine bei der Arbeit gar zu genau besahen. Einmal ist von oben herunter das Personal einer ganzen Werkstatt an einen andern Ort versetzt worden. In der Regel aber erfolgen Versetzungen nur aus politischen Gründen. Deshalb verlangt auch die Partei der Jungen jetzt, dass die Unversetzbarkeit der Richter auch für alle Arbeiter eingeführt werden soll.
    Indessen auch die Versetzung hilft nicht, überall. Jeder findet ja — das verlangt die soziale Gleichheit — auch in jedem andern Ort denselben Lohn, dieselbe Nahrung und Wohnung wieder, welche er verlassen hat. Für manche jugendlichen Radaumacher ist der Ortswechsel eine angenehme Abwechslung. Nur die Alten, welche sich nicht gern von ihren Frauen und Kindern am Ort trennen, leiden darunter.
    Doch auch Rom ist nicht an einem einzigen Tage erbaut worden. Dieser Geist der Selbstsucht in den Werkstätten, was ist er anders als die böse Hinterlassenschaft einer Gesellschaft, in welcher jeder den andern zu übervorteilen suchte. Unsere neuen Schulen und Erziehungsanstalten werden bald diejenige „moralische Atmosphäre“ schaffen, in der der Baum der Sozialdemokratie ein fröhliches, die gesamte Menschheit überschattendes, und beglückendes Gedeihen findet

18. Familiensorgen
    Das war ein Sonntag nicht wie ehedem. Endlich war es meiner Frau heute Nachmittag vergönnt gewesen, Annie zu besuchen. Die Ordnung in den großen Anstalten gestattet den Eltern nur Besuche in einer gewissen Reihenfolge. Wie hatte sich meine Frau das Wiedersehen mit dem Kinde ausgemalt! Näschereien und allerlei Spielzeug, wie es Annie stets liebte, wurden sorgfältig eingepackt und mitgenommen. Aber zu ihrem großen Schmerz musste Mutter die Sachen am Eingang zurücklassen. Besonderes Spielzeug dürften einzelne Kinder nicht haben, solches vertrage sich nicht mit der Erziehung im Sinne der sozialen Gleichheit. Mit Kuchen sei es nicht anders. Das gebe nur Veranlassung zu Zank und Streit und störe die regelmäßige Ordnung und Ernährung in der Anstalt. Meine Frau hatte von dieser neuen Verfügung noch keine Kenntnis, da sie in ihrer Anstalt neuerlich in der Küche und nicht bei den Kindern tätig ist.
    Auch die Freude des Wiedersehens hatte sich meine gute Frau von Seiten Annies stürmischer, lebhafter und zärtlicher vorgestellt. Das Kind war in des neuen Umgebung zur Mutter weniger zutraulich als sonst. Allzu lange
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