Sozialdemokratische Zukunftsbilder
,,dass sich nur sehr wenige Personen finden, welche es wagen, sich der Regierung gegenüber in der Opposition öffentlich herauszustellen, sei es als Reichstagskandidaten oder auch nur als Redner in Wählerversammlungen. Es ist ja richtig, dass Jedermann ohne weiteres seitens der Regierung zu einem andern Beruf oder an einen andern Ort verletzt werden kann. Damit sind allerdings gerade für die älteren und reiferen Leute viele, unter Umstanden recht empfindliche Veränderungen in den Lebensverhältnissen verbunden. Freilich ist eine Beschwerde gegen eine willkürliche Versetzung statthaft. Aber wer vermag den Beweis zuführen, dass die Versetzung nicht erforderlich und gerechtfertigt war wegen Veränderungen in den Arbeitsverhältnissen, durch welche eine andere Verteilung der Arbeitskräfte bedingt wird.
Eine böse Gärung ergreift, wie mir in unseren Kontrolleurskonferenzen Tag für Tag erfahren, immer tiefer die Gemüter des Volkes in Stadt und Land. Man hat den Eindruck, als ob es nur eines leichten äußeren Anstoßes bedarf, um die Flamme einer gewaltsamen Erhebung im Sinne der Wiederherstellung der früheren Zustände hoch emporlodern zu lassen. Vom Lande her hört man bald hier, dato dort von gewaltsamen Zusammenstößen der zur Durchführung der sozialdemokratischen Ordnung ausgebotenen Truppen mit der Landbevölkerung. Selbst der Truppen ist die Regierung nicht überall sicher. Berlin hat deshalb trotz der großen Heeresverstärkungen noch keine Garnison wieder erhalten. Dagegen ist die Schutzmannschaft, welche nach Möglichkeit durch zuverlässige Sozialdemokraten aus dem ganzen Laude ergänzt wird, jetzt auf 30 000 Mann gebracht worden. Abgesehen von den berittenen Mannschaften sind der Schutzmannschaft jetzt auch Artillerie und Pioniere zugeteilt worden.
Die Reichstagswahl findet allerdings durch Stimmzettel statt, welche obrigkeitlich abgestempelt sind und in geschlossenem Couvert überreicht werden. Aber bei der alle Lebensverhältnisse durchdringenden Organisation der Regierung, der Öffentlichkeit des ganzen Lebens, dem Kontrollsystem, welchem jeder Einzelne untersteht, scheinen sich viele trotz der Undurchsichtigkeit der Zettel nicht zu trauen, nach eigener Überzeugung abzustimmen. Früher war dies ja mit der Beamtenschaft in manchen Orten ähnlich. Jetzt aber ist Jedermann Angestellter des Gemeinwesens.
Das Wahlergebnis ist deshalb durchaus ungewiss. Kommt wirklich der Volkwille zum Ausdruck, so erhalten wir einen Reichstag im Sinne der Wiederherstellung der früheren Ordnung. Überwiegt dagegen die Furcht, so wird der Reichstag ein blindes Werkzeug in den Händen der Regierung sein.
Ich selbst weiß noch nicht, wie ich stimmen werde. Ich fürchte, dass man wegen der Flucht meines Sohnes mir ohnehin schärfer aufpasst. Vielleicht gebe ich einen weißen Zettel ab.
25. Trauerkunde
Annie, unser gutes, herziges, kleines Mädchen, ist tot! Kann man es fassen, dass plötzlich starr und leblos das kleine Wesen daliegt, welches immer so fröhlich und munter um uns herumsprang, verstummt der Mund, der so herzlieb plauderte, gebrochen die Augen, die in so hellem Glänze strahlten, wenn hier auf diesem runden Tische das Weihnachtsbäumchen für sie strahlte oder dort auf der Kommode ihr Geburtstagskuchen mit dem Lichtchen erglänzte?
Und gerade heute ist ihr Geburtstag. Meine arme Frau war Vormittag in das Kinderheim gegangen, um zu versuchen, ob sie an diesem Tage ihr Kind wenigstens für einen Augenblick sehen könne. Fröhlichen Herzens und lächelnden Mundes fragt sie nach dem Kinde. Da nach einer Pause — sie musste Namen und Wohnung wiederholen — schneiden ihr die kalten Worte in das Herz, das Kind sei über Nacht an der Bräune gestorben, die Mitteilung wäre soeben an die Eltern abgesandt worden.
Meine Frau sinkt starr auf einen Stuhl zurück, dann aber gibt ihr die Mutterliebe übermenschliche Kraft, sie kann es nicht fassen, dass Annie, ihr Kind, gestorben sein soll, es wird, es muss ein Irrtum sein. Sie stürzt der Aufseherin nach in den Leichenkeller. Da liegt das arme Würmchen in seinem langen roten Nachtröckchen. Alles Anrufen, Küssen und Klagen der Mutter vermag es nicht aufzuwecken.
Wie das alles so rasch gekommen ist bei der tückischen Krankheit, wer vermag es zu sagen? Eine Erklärung war vorhergegangen, wahrscheinlich über Nacht. Das Kind strampelte sich ja auch bei uns nachts immer so bloß, oder dort wachte kein Mutterauge sorgsam neben dem Bettchen jedes Einzelnen
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