Sozialdemokratische Zukunftsbilder
Früher war es doch auch nicht anders gewesen, wurde entgegnet. — Gewiss, aber früher konnte jedermann, dem es auf dem Lande nicht mehr passte, in die Stadt ziehen. Nun aber, wo der Landbewohner an die Scholle gefesselt ist so lange, bis es der Obrigkeit gefällt, ihn zu versetzen, müsse man aus dem Lande alles vorn Staate verlangen, was in den Städten geboten wird, denn: Gleiches Recht für alle!
Der Kanzler wusste sich nicht zu helfen. Regieren ist freilich etwas schwieriger als Stiefel wichsen und Kleider reinigen. Die Einrichtung der Volksbelustigungen war das einzige gewesen, was er durchgeführt hatte. Aber beim besten Willen konnte er doch nicht an jedem Kreuzweg eine Musikkapelle, einen Zirkus und ein Spezialitätentheater errichten lassen. Da kam er auf den Gedanken, an allen Sonntagen je einige hunderttausende Berliner zum Naturgenuss auf das Land und dafür ebenso viele Landbewohner zum Theatergenuss nach Berlin dirigieren zu lassen. Indessen war für diese soziale Gleichheit leider das Wetter zu ungleich. Trat Regenwetter ein, so wollten die Berliner trotz ihrer bekannten Liebe zu Mutter Grün sich nicht auf nasse Landpartien einlassen, während die Landbewohner die Plätze der Berliner bei den Volksbelustigungen lehr gern einnahmen.
So musste denn der Kanzler, nachdem er gleichmäßig Berliner und Nichtberliner gegen sich aufgebracht hatte, seinen Platz räumen, damit nicht die Missstimmung über ihn die bevorstehenden Reichstagswahlen ungünstig beeinflusse. In Berlin ist natürlich das Missvergnügen über die Einstellung aller unentgeltlichen öffentlichen Lustbarkeiten nicht gering. Die Theater sind von jetzt ab wiederum nur gegen Entschädigung durch Abtrennung von Kupons auf den Geldzertifikaten zugänglich.
Zum Nachfolger des Kanzlers ist der bisherige Reichsschatzsekretär gewählt worden. Er gilt als ein schneidiger Draufgänger und soll daneben ein guter Rechenmeister sein. Das ist umso notwendiger, als allerlei gemunkelt wird über das mangelnde Gleichgewicht zwischen den Ausgaben und Einnahmen in unserer sozialisierten Gesellschaft.
23. Auswärtige Verwicklungen
Die gesamte Kriegsflotte, welche uns die frühere Regierung hinterlassen wird jetzt Hals über Kopf wieder ausgerüstet und in Dienst gestellt. Auch das stehende Heer, welches zur Aufrechterhaltung der Ordnung im Innern an den Grenzen zuletzt wieder auf die Stärke von 500. 000 Mann gebracht war, erfährt auf Betreiben des neuen Reichskanzlers eine Erweiterung angesichts drohender auswärtiger Gefahren.
In der Rede vor dem gesetzgebenden Ausschuss, in welcher der Minister des Auswärtigen diese Maßnahmen befürwortete, weist derselbe darauf hin, dass leider die zunehmenden Reibungen, Verwicklungen und Zwistigkeiten mit dem Auslande zu solchen Sicherheitsmaßregeln zwingen. Dem auswärtigen Ministerium darf man deshalb keinen Vorwurf machen. Dasselbe hat in der sozialisierten Gesellschaft den gesamten Güteraustausch mit dem Auslande von Staat zu Staat zu vermitteln. In Folge dessen sind stets alle Klagen über mangelhafte Beschaffenheit oder unpünktliche Lieferung von Warensendungen im diplomatischen Notenwechsel zu erledigen. Spannungen über abgelehnte oder abgebrochene Geschäftsbeziehungen, oder über eine ärgerliche Konkurrenz, wie sie früher in privaten Handelskreisen auch unvermeidlich waren, übertragen sich jetzt auf die Beziehungen von Staat zu Staat. Das liegt einmal in der Natur der neuen Einrichtungen.
Aber das internationale sozialdemokratische Bewusstsein — so führte der auswärtige Minister mit Recht aus — das Gefühl der Brüderlichkeit aller Völker sollte doch hierbei in ganz anderer Weise, wie es leider der Fall ist, ausgleichend, schlichtend und Frieden stiftend wirken Freilich bei den Engländern, diesen egoistischen Manchesterherren, welche mit ihren Vettern, den Amerikanern, von der Sozialdemokratie durchaus nichts wissen wollen, kann solches nicht Wunder nehmen. Sie können es nicht verwinden, dass das sozialdemokratische Festland in Europa durch Annullierung aller Staatspapiere, Aktien u. s. w. sich auch von der Schuldknechtschaft gegenüber den englischen Besitzern solcher Schuldtitel des Kontinents befreit hat. Aber selbst diese hartgesottenen Geldmenschen müssten einsehen, dass Deutschland bei dieser Annullierung gegenüber dem Ausland weit mehr Milliarden verloren, als gewonnen hat, da auch sämtliche im deutschen Besitz befindlichen rassischer, österreichisch-ungarischen
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