Sozialdemokratische Zukunftsbilder
Wahl hundert Mal mehr ab, als von den früheren Reichstagswahlen. Von der Ordnung des Staatswesens ist ja heute Alles und Jedes bedingt: wir viel der Einzelne zu arbeiten, zu essen und zu trinken, wie er zu wohnen und sich zu kleiden hat u. s. w. u. s. w.
Das sieht man auch schon aus den Programmen und Wahlaufrufen. Die Zahl der Interessengruppen, welche mit Sonderwünschen hervortreten, ist Legion. Eine große Zahl von Programmforderungen betrifft Umgestaltungen des Küchenzettels, Vergrößerung der Fleischration, besseres Bier, stärkeren Kaffee (infolge der auswärtigen Verwicklungen soll jetzt fast nur Cichorienkaffee verabfolgt werden), größere Wohnungen, stärkere Heizung, reichlichere Beleuchtung, billigere Kleider, reinlichere Wäsche n. s. w. u. s. w.
Viele Frauen sind sehr ungehalten, dass ihre Forderung, in besonderen Wahlkreisen die Hälfte der Abgeordneten zu wählen, als ständisches reaktionäres Absonderungsgelüste zurückgewiesen worden ist. Bei der Verbindung mit den Männern zu gemeinschaftlichen Wahlkreisen fürchten die Frauen, dass viele ihrer Genossinnen den Männerkandidaten zufallen und sie in Folge dessen bei der Unzuverlässigkeit der Unterstützung ihrer Kandidatinnen von Seiten der Männer nicht viele weibliche Abgeordnete durchbringen werden.
Ein großer Teil der Frauen macht ohne Rücksicht auf Lebensalter gemeinsame Sache mit der Partei der „Jungen“, welche tatsächlich nunmehr zur Sicherung dieser Bundesgenossenschaft das Recht auf Verehelichung auf' ihre Fahne geschrieben hat Außerdem verlangen die „Jungen“, welche sich unter Berufung auf die Schrift Bebels über die Frau als die eigentlichen Bebelianer ausgeben, einen vierstündigen Maximalarbeitstag, wöchentliche Abwechslung in der Berufsarbeit, allmonatliche neue und zwar alternierende Besetzung aller höheren Beamtenstellen bis einschließlich der Reichskanzlerwürde, außerdem vierwöchentliche Sommerferien mit Badereisen und Wiedereinführung unentgeltlicher Volksbelustigungen. Die eigentliche Regierungspartei tritt sehr zuversichtlich auf, obwohl ihr Programm nicht über allgemeine Redewendungen hinauskommt. Sie fordert alle vorgenannten Parteien auf, als gute Patrioten sich nötigenfalls als große Ordnungspartei zusammenzuschließen gegen eine Partei der Negation und des Umsturzes, welche im Dunklen schleiche und sich unter dem verlockenden Namen einer Freiheitspartei einzuschmeicheln suche. Diese Freiheitspartei verlangt nämlich die Wiederherstellung des Rechts der Eltern zur Erziehung ihrer Kinder, Aufhebung der Staatsküchen, freie Berufswahl und Freizügigkeit, sowie höhere Belohnung für schwierigere Arbeit. Jedermann müsse einsehen, dass solche Forderungen die soziale Gleichheit zerstören und deshalb die Grundlage der sozialisierten Gesellschaft zu untergraben geeignet seien. Die Erfüllung jener Forderungen — so heißt es in dem Ausruf der Regierungspartei — würde zur Wiederherstellung des Privateigentums und des Erbrechts, zur Kapitalherrschaft und zum Ausbeutesystem der früheren Gesellschaft unbedingt zurückführen.
Der Vielheit der Programme und Wahlaufrufe entspricht durchaus nicht die geringe Lebhaftigkeit der Wahlbewegung. Letztere war in früherer Zeit viel stärker. Allerdings sind entsprechend den Beschlüssen des Erfurter Parteitages vom Oktober 1891 alle Gesetze, welche das Recht der freien Meinungsäußerung und die Vereinstätigkeit beschränken, abgeschafft. Aber was nützt die Pressefreiheit, wenn die Regierung im Besitz aller Druckereien ist, was hilft die Versammlungsfreiheit, wenn alle Versammlungslokale der Regierung gehören! Freilich dürfen die öffentlichen Versammlungslokale, im Falle sie nicht anderweitig vergeben sind, von allen Parteien zu Wahlversammlungen benutzt werden. Aber es fügt sich merkwürdigerweise sehr oft, dass gerade für die Oppositionsparteien keine Räumlichkeiten frei sind. Allerdings sind die Regierungsblätter zur Aufnahme von Wahlinseraten jeder Art verpflichtet, aber da bei der Einrichtung unserer Geldzertifikate überhaupt keine Geldmittel von den Wahlkomitees gesammelt werden können, so bestehen auch keinerlei Wahlfonds zur Bezahlung solcher Inserate und zur Bestreitung sonstiger Wahlkosten. Darin war die sozialdemokratische Partei in der früheren Gesellschaft unzweifelhaft viel besser bestellt. Sie verfügte über große Wahlfonds und verstand es, dieselben geschickt zu benutzen.
Die Oppositionsparteien klagen jetzt besonders darüber
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