Späte Heimkehr
einer Hand fest an sich und streckte die andere aus, um Mr. Richards auf Wiedersehen zu sagen. »Danke für die Lokomotive. Meine Lokomotive habe ich nämlich auch sehr lieb.«
»Da freue ich mich aber, so etwas zum Abschied zu hören«, sagte Mr. Richards. Dann kniete er sich vor den Jungen, sah ihm in die Augen und sagte mit leiser Stimme, als verrate er ihm ein Geheimnis: »Weißt du, was man tut, wenn man etwas sehr liebt? Man teilt es.«
»Sie meinen, dass man jemand anderes damit spielen lässt?«, fragte der Junge unsicher.
»Genau. So ungefähr.« Mr. Richards beugte sich vor, flüsterte kurz etwas in Richies Ohr und zog sich dann mit einem Zwinkern wieder zurück. Richie lächelte und versuchte zurückzuzwinkern.
Beim Abendessen war Phillip sehr entspannt. Er freute sich, als Richie bei Tisch erschien, und lächelte über die Vorsicht, mit der der Junge das Buch neben seinen Teller legte. Zum ersten Mal fiel es ihm leicht, ein Gespräch mit seinem Enkel zu führen. Sie machten ein paar Scherze über Mr. Richards Bart und darüber, dass er ein bisschen so aussah wie der Weihnachtsmann, stellten Vermutungen an, was Richie wohl zu Weihnachten bekommen würde, lobten Mrs. Andersons Weihnachtskuchen und einigten sich darauf, dass sie vor dem Schlafengehen noch ein weiteres Stück davon essen sollten.
Als er sich anschließend in sein Arbeitszimmer setzte, goss sich Phillip statt des Portweins, den er sonst immer trank, einen Scotch ein. Mit dem Glas in der Hand stand er an der offenen Terrassentür und blickte in den Nachthimmel hinauf, als Mrs. Anderson ins Zimmer trat, um ihm eine gute Nacht zu wünschen.
»Ach so, was ich Sie noch fragen wollte, Mrs. Anderson – was ist das eigentlich für ein Weihnachtssingen auf der Gemeindewiese, von dem Mr. Richards heute Nachmittag sprach?«
»Ja, das hat die Landfrauenvereinigung sich ausgedacht, um den Heiligen Abend dieses Jahr einmal auf ganz besondere Weise zu feiern. Bei Kerzenschein werden Weihnachtslieder gesungen. Die ganze Gemeinde ist eingeladen.«
»Aha. Gute Nacht, Mrs. Anderson.«
Er machte es sich in seinem Ledersessel bequem und war so tief in Gedanken versunken, dass er den kleinen Richie, der ins Zimmer geschlüpft war, erst bemerkte, als er neben ihm stand.
Sein Haar war feucht nach dem abendlichen Bad, sein Morgenrock war fest mit einer Seidenkordel zugebunden, an deren Enden dicke Troddeln hingen. In der Hand hielt er seine geliebte Lokomotive.
Phillip sah ihn überrascht an. »Bist du gekommen, um mir gute Nacht zu sagen?«
»Mr. Richards hat gesagt, dass du traurig bist, weil du keine Familie mehr hast«, sagte Richie und holte dann tief Luft. »Aber ich bin ja da.« Er drückte Phillip die Lokomotive in die Hand. »Du darfst auch mal damit spielen, Großvater.«
Phillip nahm die zerkratzte und schmutzige Lokomotive, betrachtete sie eingehend und drehte sie nachdenklich in den Händen. Auf einmal schienen die strengen Falten in seinem Gesicht und der harte Zug um den Mund weicher zu werden, und er sah seinen Enkel unsicher an. Er war so bewegt, dass er kaum sprechen konnte. »Danke«, flüsterte er heiser. »Das ist sehr nett von dir.«
Als Phillip dem Jungen in die Augen blickte, wurde ihm plötzlich klar, dass die Bedürfnisse des Kindes dieselben waren wie seine und dass er sein ganzes Leben lang diese Bedürfnisse geleugnet hatte. »Ich glaube, ich werde damit heute Abend viel Spaß haben. Wenn ich sie so lange behalten darf, gebe ich sie dir beim Frühstück zurück.«
Richie lächelte erleichtert. Es war ihm nicht leicht gefallen, seine Lokomotive herzugeben, aber er spürte, dass er den Mann mit dieser Geste glücklich gemacht hatte. Und dabei hatte er schon geglaubt, dass man ihn mit gar nichts glücklich machen konnte.
Bei den McBrides lagen alle bereits in ihren Betten. Nur Gwen war noch auf. Sie hatte noch einige Weihnachtsgeschenke zu verpacken, die sie anschließend auf dem obersten Brett des Vorratsschranks versteckte. Danach ging sie zum Kamin hinüber, holte hinter einer alten Teebüchse einen Umschlag hervor, zog das gefaltete Blatt Papier heraus und setzte sich damit an den Küchentisch. Es war der Brief, den Mr. Richards ihnen vor beinahe vier Jahren geschrieben hatte.
Lieber Bob und liebe Gwen,
ich habe erst jetzt durch meinen Freund von der Bush Brotherhood von der entsetzlichen Tragödie erfahren. Mir fehlen die Worte, um Ihnen auch nur annähernd sagen zu können, wie unendlich traurig ich
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