Späte Heimkehr
die Couch und ließ die Beinchen baumeln. Zwischen zwei Bissen sah er auf und sagte: »Sie haben meine Lokomotive gemacht, nicht wahr?«
»Das stimmt. Und es freut mich zu sehen, dass sie immer noch tuckert.«
»Damit spiele ich am liebsten.«
»Na, ich tuckere jetzt auch am besten mal los und bringe Jim seinen Tee und ein Stück Kuchen«, kicherte Mrs. Anderson. »Dann könnt ihr beiden euch in Ruhe unterhalten.«
»Wann haben Sie sie gemacht?«, fragte Richie und strich mit der Hand über das Holz.
»Vor deiner Geburt. Ich habe sie deiner Mama gegeben.«
»Sie hat einen Unfall gehabt und ist tot, wissen Sie. Und mein Daddy auch.«
Mr. Richards nahm seine Hand. »Ja, das weiß ich«, sagte er leise. Dann fragte er lächelnd: »Womit spielst du denn sonst noch gern?«
Der Junge zögerte und sah dem alten Mann dann in die Augen. Etwas in seinem Blick machte ihm Mut. Obwohl er schon geschimpft worden war, weil er verbotenerweise an die Regale der Bibliothek gegangen war, ließ er die tröstliche Hand los, marschierte zum Schrank, schloss ihn auf und wählte sorgfältig eines der Bücher aus. Er blieb einen Moment lang stehen, hielt das Buch in der Hand und strich behutsam über das Bild auf dem Titel, bevor er sich umdrehte und wieder zum Sofa zurückging. »Damit.«
»Sieben kleine Australier«
, las Mr. Richards den Titel. »Und warum gerade damit?«
Richie blätterte langsam die Seiten um, und in diesem Augenblick erschien Phillip wieder in der Tür. Mit einem Blick sah er, dass die Türen des Bücherschranks offen standen und dass die beiden, die mit dem Rücken zu ihm auf dem Sofa saßen, offensichtlich in ein Buch schauten. Er blieb wie erstarrt in der Tür stehen.
»Ich schaue mir die Bilder an«, erklärte Richie gerade mit ernster Stimme. »Das hier ist das schönste. Ich schaue es mir immer an.« Seine Unterlippe zitterte leicht, als er auf die Schwarzweißzeichnung einer großen Familie blickte, die fröhlich in einem Wohnzimmer beisammensaß.
»Aha. Weißt du, ich habe das Buch schon einmal gelesen. Es handelt von einer großen Familie mit sieben Brüdern und Schwestern, die sich alle sehr lieb haben.«
»Ich hätte auch gern Geschwister.«
»Aber du hast doch andere Menschen, die du lieb haben kannst, oder etwa nicht?«
»Doch, Mrs. Anderson und Jim, die hab ich lieb.« Er schwieg einen Moment. »Und Diet und Tucker.« Er schwieg wieder und überlegte. »Und kleine Lämmer mag ich auch.« Aber so sehr er auch nachdachte, es war klar, dass das alles nicht mit der Familie zu vergleichen war, die er auf dem Bild vor sich sah.
»Und deinen Großvater, den hast du doch sicher auch lieb?«
Richie zögerte und sagte dann sehr langsam und gedehnt: »J … a.«
»Er braucht nämlich ganz viel Liebe von dir, weißt du, Richie. Als dein Dad den Unfall hatte und deine Großmutter gestorben ist, hat auch er seine Familie verloren.«
Richie hatte keine Zeit, diesen Gedanken zu verarbeiten, weil Phillip sich in diesem Augenblick räusperte und das Zimmer betrat. Der Junge schlug die Seite rasch zu und wollte das Buch gerade hinter seinem Rücken verstecken, als Phillip freundlich sagte: »Wenn du möchtest, kannst du es behalten, Richard.«
»Wirklich, Großvater? Ich kann es behalten?«
»Aber natürlich. Du musst nur gut darauf aufpassen.«
Richie sprang sofort auf, lief zu seinem Großvater und verblüffte ihn mit einer Umarmung, dann stürmte er aus dem Zimmer und rief nach Mrs. Anderson, um ihr zu erzählen, was passiert war.
Die beiden Männer widmeten sich wieder ihrem Tee und dem Kuchen.
»Ein prächtiger kleiner Bursche, den Sie da haben, Mr. Holten. Er macht sich wirklich sehr gut.«
Phillip war tief gerührt, bemühte sich jedoch, gelassen zu wirken. »Vielen Dank. Natürlich ist es nicht einfach ohne eine Familie, die mithelfen kann.«
Sie unterhielten sich noch etwa eine Stunde lang, und als sein Gast verkündete, er müsse sich jetzt wieder auf den Weg machen, da er noch eine lange Fahrt vor sich habe, reagierte Phillip sehr betrübt.
»Ich hoffe, Sie sehen mal wieder bei uns vorbei. Es ist immer ein Vergnügen, sich mit Ihnen zu unterhalten, Mr. Richards.«
»Ich habe sowieso versprochen, in ein paar Tagen wiederzukommen, um am Weihnachtssingen auf der Gemeindewiese teilzunehmen«, erwiderte er, als Richie und Mrs. Anderson ins Zimmer kamen. »Ach, da kommt ja auch schon der junge Schafzüchter, um sich zu verabschieden.«
Richie drückte seine Spielzeuglokomotive mit
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