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Späte Heimkehr

Späte Heimkehr

Titel: Späte Heimkehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Di Morrissey
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für alle Mal gerissen. Es gab keinen Gott, es gab auch keine Hoffnung.
    Mrs. Anderson bemühte sich, sie zum Essen zu bewegen, musste das Tablett mit den Mahlzeiten jedoch an den meisten Tagen unberührt in die Küche zurücktragen. Sie wandte sich besorgt an Phillip Holten, aber der war tief in Schuldgefühle und in die eigene Trauer verstrickt und konnte nur wenig ausrichten. Als Mrs. Anderson ihn fragte, was aus dem kleinen Richie werden sollte, raunzte er wütend: »Ich möchte in diesem Haus nichts mehr von dem Kind hören!«
     
    Sechs Monate später hatte sich nur wenig verändert, aber Richie war zu einem gesunden kleinen Jungen herangewachsen, und sein fröhliches Lachen brachte etwas Licht in das Leben der McBrides. Sonntags kam meist Mrs. Anderson zu Besuch, gelegentlich wurde sie dabei auch von Jim begleitet. Einmal arbeitete sie auf Amba gerade im Gemüsegarten und erzählte Tim von Richies neuesten Fortschritten, als sie aufsah und Enid erblickte, die in der Tür stand und ihr zuhörte. Ertappt wandte Enid sich ab und ging nachdenklich in ihren Salon. Der kleine Zwischenfall bestärkte sie in ihrem Entschluss, Phillip auf eine Idee anzusprechen, die ihr schon seit geraumer Zeit im Kopf herumging.
    »Störe ich?«
    Phillip blickte überrascht von seinem Briefmarkenalbum auf, als er die Stimme seiner Frau hörte, die ihr Zimmer nur noch selten verließ – seit Barneys Tod hatte sie die meiste Zeit im Bett verbracht. »Aber nein, überhaupt nicht. Setz dich doch. Was gibt es denn?« Er bemerkte, dass seine Frau nervös ihre Hände knetete und einen eher verkrampften Eindruck machte. Sie wirkte sehr entschlossen, als sie vor ihm Platz nahm.
    »Ich möchte etwas mit dir besprechen, Phillip. Ich habe nun schon seit einiger Zeit über etwas nachgedacht und habe eine Entscheidung getroffen.« Sie holte tief Luft, weil die Nervosität ihr die Brust zuschnürte. »Ich möchte, dass wir Barnards Sohn adoptieren. Ich glaube, hier gehört er hin. Zu uns.«
    Phillip starrte sie zunächst entgeistert an, dann verfärbte sein Gesicht sich langsam dunkelrot: »Aber was redest du denn für einen Unsinn, Enid. An so etwas ist doch überhaupt nicht zu denken. Ich war damals dagegen und habe meine Meinung dazu nicht geändert. Wir müssen vergessen, dass dieses Mädchen jemals existiert hat«, stieß er verbittert hervor. Als er das enttäuschte Gesicht seiner Frau sah, fügte er etwas freundlicher hinzu. »Du kannst ihn nicht ersetzen, Enid. Er ist nun einmal nicht mehr da.«
    »Es würde mich glücklich machen, Phillip.«
    »Liebling, du hast überhaupt nicht die Kraft, dich um einen Säugling zu kümmern. In deinem Alter …«
    »Wir haben die Andersons …«, sagte Enid, aber als sie sah, wie sich Phillips Miene verhärtete, geriet ihre Entschlossenheit ins Wanken.
    »Und jetzt Schluss mit diesem Unsinn«, sagte er und hob abwehrend die Hand. »Setz dich zu mir und trink einen Sherry.«
    Enid nahm gehorsam neben ihm Platz, und Phillip goss ihr einen Schluck der bernsteinfarbenen Flüssigkeit in ein kleines geschliffenes Glas.
    Es war das letzte Mal, dass Enid versuchte, sich gegen ihren Mann durchzusetzen. Von diesem Tag an begannen ihre heimliche Sympathie für Abby und ihre Schwachheit Phillip gegenüber sich zu einem alles überwältigenden Gefühl der Schuld zu verdichten. Immer wieder redete sie sich ein, dass alles anders hätte kommen können, wenn sie nur die Willenskraft gehabt hätte, sich gegen Phillip durchzusetzen, als Barney seine Eltern darum gebeten hatte, ihm die Heirat mit Abby zu erlauben. Sie marterte sich mit Selbstvorwürfen, und ihr Gesundheitszustand wurde immer schlechter.
    Auch die Andersons hatten unter der bedrückten Atmosphäre im Haus zu leiden, und eines Abends vertraute Mrs. Anderson ihrem Mann nach dem Essen an, dass sie zunehmend das Gefühl habe, in einem Leichenhaus zu arbeiten. »Ich weiß nicht, wie lange ich das noch ertragen kann, Jim. Es ist so deprimierend. Ich komme mir mittlerweile vor, als sei ich eine Krankenschwester und keine Haushälterin.«
    »Wir können Mrs. Holten nicht im Stich lassen. Und ihn auch nicht. Überleg doch mal, Schatz, was würde Barney wohl sagen, wenn wir seine Eltern verlassen würden? Außerdem – wo sollen wir denn hin? Wir sind schon zu lange hier.«
    »Wahrscheinlich hast du Recht«, seufzte Mrs. Anderson. »Und ich würde es auch gar nicht ertragen, von meinem süßen kleinen Richie, meinem Sonnenschein, wegzuziehen. Ich muss immer

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