Späte Schuld
bis der Stau sich aufgelöst hatte, war Alex zur Untätigkeit verdammt.
Und was war mit Gene?
Er rief sie auf dem Handy an und hoffte händeringend, dass sie abnahm.
»Hallo, Ale…«
Genes Stimme wurde abrupt unterbrochen.
Irgendetwas war passiert. Alex hörte Geräusche, die nach einem Gerangel klangen, aber schon kurz darauf war es wieder still.
Dann drang eine Männerstimme an sein Ohr: »Ich hab deine kleine Schlampe hier.«
Mittwoch, 2. September 2009 – 19.41 Uhr
Andi hielt sich jetzt nur noch mit einer Hand fest und strich sich mit der anderen selbstbewusst, ja fast arrogant, die Haare aus dem Gesicht. Dann schloss sie wieder beide Hände um das Geländer. Ihre Tränen waren im Handumdrehen getrocknet, und ihr Gesichtsausdruck strahlte eine immer größere Souveränität aus. Sogar ihre Haltung und ihre Körpersprache hatten sich verändert. Vor Claymore stand kein schüchternes kleines Mädchen mehr, sondern eine Frau, die sehr genau wusste, was sie wollte.
»Ganz schön clever, Claymore.« Ihre Stimme klang jetzt viel tiefer. »Was hat dich auf die richtige Fährte gebracht?«
»Manche Aussagen von dir – beziehungsweise von Andi.«
»Tja, gar nicht schlecht für einen Nigger. Du hast natürlich recht. Das mit der Gerichtssoftware war tatsächlich ich. Schnipp, schnapp, schon hatte ich sie mit meinem messerscharfen Verstand regelrecht zerstückelt. Dafür musste ich nur zwei Codereihen austauschen und den dynamischen Speicher vergrößern. Das war’s. Das habe ich schon vor fünf Jahren in New York erledigt. Ein Kinderspiel.«
Während sie sprach, zog sich Claymore unauffällig die Jacke aus.
»Der Maschinencode war öffentlich zugänglich, ich musste nur die Object Calls im Main Object austauschen und ihn rekompilieren. Das Schwierigste war, ihn hinterher in die Systeme einzuschleusen. Die meisten Bundesstaaten schützen ihre Programme zur Geschworenenauswahl mit Firewalls. Aber ich war schlauer als sie. Ich war schlauer als diese sentimentalen Idioten! Ich beherrsche nämlich mein Geschäft, Claymore, genau wie du früher deine erwählte Berufung beherrscht hast.«
»Dann verdiene ich den Tod genauso.«
»Kann schon sein«, sagte sie mit einem gleichgültigen Schulterzucken.
»Vielleicht bin ich derjenige, der von dieser Brücke springen sollte.«
»Das bleibt dir überlassen.«
Claymore ergriff die Gelegenheit, langsam näher an sie heranzutreten. Dann begann er, übers Geländer zu klettern, wobei er darauf achtete, dass keine seiner Bewegungen bedrohlich auf sie wirkte.
Hier, wo tief unter ihnen der Ozean schäumte, befanden sie sich zum ersten Mal auf Augenhöhe miteinander. Aber er war noch immer nicht zu ihr durchgedrungen.
»Warum hast du Andi den Zugriff auf die DNA-Datenbank untergeschoben? Ich meine, ich verstehe ja, warum du die Datei manipuliert hast. Du wolltest mich drankriegen. Aber warum hast du die Schuld auf Andi geschoben?«
»Das müsste doch eigentlich offensichtlich sein. Andi ist mir in den Rücken gefallen. Ich musste ihr das Handwerk legen.«
»Aber letztendlich hast du ihr damit doch erst die Munition geliefert, mit der sie es geschafft hat, mich von allen Anschuldigungen reinzuwaschen.«
»Ja, diese Andi ist ein schlaues Mädchen. Was ja auch nicht verwunderlich ist, schließlich steckt ein Teil von mir in ihr. Aber das spielt alles keine Rolle mehr, weil jetzt das Ende für uns gekommen ist.«
»Für uns?«, wiederholte er nervös.
»Für Andi und mich.«
Claymore rang verzweifelt nach Worten – Worten, die die willensstarke Lannosea von ihrem Vorhaben abbringen würden. »Aber Andi hat es nicht verdient zu leiden – und du auch nicht. Ich bin derjenige, der euch beide verletzt hat. Daher bin ich auch derjenige, der dafür bezahlen sollte.«
»Was willst du damit sagen, Claymore? Dass dir etwas an Andi liegt? An einer schwachen weißen Schlampe, die du vergewaltigt hast?«
»Ja«, antwortete er leise. Sie saß immer noch am längeren Hebel, und das wussten sie beide.
»Scheint, als wärst auch du ziemlich schwach.«
Claymore zuckte hilflos mit den Schultern. »Du hast recht. Ich bin schwach.«
»Dabei warst du früher mal so stark.«
»Vermutlich war ich nur stark, weil die Wut in meinem Innern so groß war. Jetzt bin ich schwach, weil mir meine Schuld keine Ruhe lässt.«
»Wenn man schwach ist, ist man verwundbar.«
»Stimmt. Ich bin derjenige, der Strafe verdient, nicht Andi.«
»Mich interessiert die Art von Schwäche, die du jetzt
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