Späte Schuld
hören Sie mir zu. Sie haben es aus ihrem Gedächtnis gelöscht. Die Vergewaltigung. Den Schmerz. Das war ich . Ich war der Mann, der Sie damals vergewaltigt hat. Sie haben die Vergangenheit ausgesperrt und aus ihrer Erinnerung gestrichen, aber unterschwellig ist sie immer da gewesen.«
»Ich verstehe nicht, was Sie meinen«, sagte sie matt. Ihre Stimme klang nun eindeutig wie die eines kleinen Mädchens, während eine ferne Erinnerung in ihr Bewusstsein sickerte.
»Sie haben sich das alles selbst angetan«, fuhr er fort. »Die E-Mails, die Drohungen, die ausgetauschte DNA-Datei. Und dabei haben Sie eine Spur hinterlassen, die zurück zu Ihnen führte. Das waren die ganze Zeit Sie, Andi. Sie haben sich das selbst angetan!«
»Warum hätte ich so etwas tun sollen?«, fragte sie.
Er wusste nicht, wie viel sie getrunken oder was sie sonst noch genommen hatte. Aber sie war erkennbar neben der Spur.
»Weil es Ihre Art war, mit dem Druck umzugehen … den schmerzhaften Erinnerungen. Weil Sie diese Erinnerungen nicht ertragen konnten, haben Sie sie einfach gelöscht. Und dann haben Sie sich offenbar eine zweite Persönlichkeit erschaffen, die Ihnen Ihre Wut abgenommen hat, damit Sie Ihr Leben weiterleben konnten.«
»Was meinen Sie mit ›zweite Persönlichkeit‹?«, fragte sie, während ihr vor Schmerz über die schemenhaft zurückkehrenden Erinnerungen Tränen über die Wangen liefen.
»Ich weiß nicht, was es sonst noch für Gründe gab. Ich weiß nur, dass meine Tat der Auslöser war. Sie wollten Rache. Sie wollten, dass ich bestraft werde – und das hatte ich auch verdient. Aber gleichzeitig wollten Sie Ihren Schmerz auch vergessen. Und beides war wohl zu viel für Sie. Das eine war mit dem anderen nicht vereinbar, also hat der Teil von Ihnen, der vergessen wollte, die Erinnerungen gelöscht. Und der andere Teil hat sich selbstständig gemacht, um Rache zu üben. Aber weil Sie mir im Prozess geholfen haben, wollte dieser andere Teil plötzlich nicht mehr nur Rache an mir üben, sondern auch an Ihnen.«
»Rache?«, wiederholte sie verwirrt. Ihre Gedanken schweiften an einen weit entfernten Ort ab.
»Ja. Sie selbst haben die Gerichtssoftware manipuliert.«
»Nein!«, wimmerte Andi und wischte sich mit der Rückseite der freien Hand die Tränen ab. »Das war Lannosea!«
»Verstehen Sie denn nicht, Andi? Sie sind Lannosea. Sie ist ein Teil von Ihnen. Der starke Teil, der Teil, der Rache und den anderen Teil bestrafen will, weil er mir geholfen hat. Lannosea ist nichts weiter als Ihre wütende Seite. Sie hat Ihnen die Wut abgenommen, aber der Schmerz steckt immer noch in Ihnen. Und deshalb hat sie Sie mit diesen Drohmails bombardiert und sich in die Datenbank gehackt, um es hinterher Ihnen in die Schuhe zu schieben. Das haben Sie sich selbst angetan, um sich zu bestrafen.«
»Nein, Sie irren sich! Das kann nicht sein! Ich würde nie jemanden im Stich lassen, der mir sein Vertrauen geschenkt hat.«
»Andi, ich mache Ihnen doch gar keinen Vorwurf. Ich habe weiß Gott kein Recht, überhaupt jemandem Vorwürfe zu machen! Aber Sie brauchen Hilfe.«
»Aber nicht von Ihnen !«
Es sah aus, als würde sie springen. Er musste sie aufhalten.
»Lannosea!«, rief er verzweifelt. »Wenn du sie springen lässt, stirbst auch du!«
Mittwoch, 2. September 2009 – 19.38 Uhr
Alex kam nach wie vor nicht voran. Er steckte auf der Bay Bridge im Stau.
Er hatte noch mehrmals versucht, Martine in ihrem Hotelzimmer zu erreichen, aber es ging niemand ans Telefon. Ihm kam der Gedanke, die Rezeption zu bitten, einen Mitarbeiter nach oben zu schicken, um nachzusehen, ob alles in Ordnung war, aber er befürchtete, dass man ihn für verrückt halten oder die Angelegenheit zumindest nicht als besonders dringlich erachten würde.
Gene hingegen musste inzwischen im Hotel angekommen sein.
Er war erstaunt darüber, dass sie ihm plötzlich helfen wollte – und das nach allem, was sie im Gerichtssaal durchgemacht hatte. Aber irgendwie war es auch einleuchtend. Bestimmt plagten sie wegen ihrer Tat schreckliche Schuldgefühle, und sie versuchte nun, sich auf ihre Art davon reinzuwaschen.
Aber hatte sie wirklich recht damit, dass Martine in Gefahr schwebte?
Alex wusste es nicht. Er wusste nur, dass Manning tatsächlich geflohen war. Die Nachrichten im Radio bestätigten auch, was Gene über seine versteckte Drohung gesagt hatte. Und außerdem lag ihrer Theorie, dass Martine das Ziel dieser Drohung war, eine gewisse Logik zugrunde.
Aber
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