Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens
Was, wenn Pedro ein Pflegefall würde, das hatte Veronika nämlich gerade hinter sich mit ihrem verstorbenen Mann. Ein zweites Mal würde ich das nicht schaffen, hatte sie gesagt.
Ich wollte, dass sie gut ausgeht, die schöne späte Liebesgeschichte, so hoffnungsvoll, so rührend, die kann man sich doch nicht von der Realität kaputtmachen lassen. Ist vielleicht nicht so schlimm, wenn er erst mittags aufsteht, tröstete ich Veronika, dann haben Sie den Vormittag für sich, und wenn er abends lange aufbleibt, können Sie mit dem schönen Gefühl einschlafen, dass da jemand ist in ihrer Wohnung. Er wolle mit ihr zusammenleben, erwiderte sie, und sie wolle auch gern, so ginge das aber nicht.
Irgendwann löste sich die Krise. Die Gewohnheiten des einen und des anderen lassen sich nicht mehr ändern, aber sie gewöhnen sich daran. Sie wohnen nicht ständig zusammen, doch sie besuchen sich regelmäßig, sie fliegt nach Brasilien, er nach Berlin. Sie passen aufeinander auf. Als sie im Krankenhaus war, rief Pedro täglich aus Sao Paulo an und erkundigte sich nach ihrem Befinden. Als er wieder in Berlin war, brachte sie ihn zu Ärzten, die die Folgen der Operation reparierten. Sie treffen Freunde, gehen ins Theater, essen zusammen an weiß gedeckten Restauranttischen. Vor allem haben sie sich zwei lange Leben zu erzählen, eins in Ostberlin und eins in Sao Paulo. Ihre Berufe, ihreEhen, ihre Ideale. Ihr Kind, die Tochter. Auf den Erinnerungen einer Jugendliebe gründet sich keine himmelhochjauchzende Liebschaft, aber womöglich ein zuverlässiges Beieinandersein, lieber Zweisamkeit mit Makeln als makellose Einsamkeit. Man ist wieder wer für wen, man hat wieder jemanden, der an einen denkt. Ein Anruf, ein Blick, ein Streicheln. Eine Spätvorstellung der Liebe ist sie allemal, diese Weißhaarvariante einer amour fou. Sie zeigt, dass der Vorhang immer wieder aufgehen kann.
Das Leben ein Theaterstück. Zuerst spielt man die Hauptrolle, dann eine Nebenrolle, und schließlich sieht man zu, wie der Vorhang fällt. Ich werde nicht rebellieren. Wenn ich alt bin, werde ich weise sein, gütig und abgeklärt. Ich werde in der Straßenbahn auf meinem Platz sitzen bleiben, wenn ältere Leute zusteigen, ich werde alten Damen nicht mehr die Tür aufhalten, denn ich bin ja nun selber alt. Ich werde Dinge tun, die ich in meinem bisherigen Leben versäumt habe. Ich werde Blechkuchen backen, Brombeermarmelade kochen und am Abend Ingwertee mit Pfefferminze trinken. Ich werde Strümpfe stricken, in einen Chor eintreten und mir die Haare weiß färben lassen. Einen Rehpinscher werde ich mir anschaffen, zum Gottesdienst gehen und einem Wanderverein beitreten. Meine sonstigen Bedürfnisse werden sich auf die morgendliche Lektüre der Tageszeitung und einen Johannisbeerlikör am Nachmittag beschränken. Wenn ich alt bin, werde ich all die Briefe schreiben, für die ich niemals Zeit hatte. Mit der Hand, obwohl Schönschrift nicht meine Stärke ist.
Wenn ich alt bin, werde ich im Schaukelstuhl sitzen und aus dem Fenster die überschaubare Welt meinerStraße betrachten. Ich werde dem Vergehen der Zeit nachspüren und auf diese Weise die Zeit, die bleibt, zu verlängern suchen. Ich werde alle Bücher noch einmal lesen, von Maupassant bis Dostojewski, vielleicht sogar die antiquarischen Nesthäkchenbände, die meine Mutter hinterlassen hat. Ich werde verblichene Briefe ordentlich falten und in goldene Kartons sortieren. Ich werde die alten Kinderfotos neben die neuen legen: Sophie im Tütü, Sophie vor der gefallenen Mauer, Sophie mit Baby. Julie im Streit mit ihrem dreijährigen Freund Valentin, Julie im Abendkleid auf der Bühne. Ich als Studentin Unter den Linden, ich schwanger in eben dem Schaukelstuhl, in dem ich heute noch schaukele. Wir als junges Paar im Regen, wir in Venedig.
Wenn ich alt bin, werde ich jeden Nachmittag mit Earl Grey Tea die Stunde genießen, in der der Tag versöhnlich zur Neige geht, und die man die blaue nennt. Ich werde der Dinge gedenken, die verschwunden sind oder demnächst verschwinden werden: Bahnhofsuhren, Telefonzellen, Kaffeekannen und Langspielplatten. Spielende Kinder auf der Straße, eiserne Wasserpumpen, die Mengenbezeichnungen Pfund und Dutzend, der Fleischwolf. Schreibmaschine und Glühbirne werden ebenfalls verschwinden. Was noch? Das Stofftaschentuch und die Deutsche Bank. Wenn ich alt bin, werde ich mit Nachsicht an die Zeiten zurückdenken, als die Lust am Leichtsinn noch zu meinem Alltag gehörte. Ich
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