Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens
gemeinsamen Essen gefragt. Ja, wir telefonieren öfter. Dann hast du seine Telefonnummer in Brasilien? Ich kann dir die Nummer geben, sagte ich. Veronika, komm doch mal her, rief er rüber zum anderen Ende des Tisches, Sylvia hat die Telefonnummer von Pedro in Sao Paulo! Eine zarte Frau mit fliederfarbenem Pferdeschwanz stand auf und kam mit einem Hündchen auf dem Arm auf mich zu. Ich gab ihr einen Zettel mit einer sehr langen Telefonnummer und konnte im Fortgang des Abends der Verwandlung einer zurückhaltenden älteren Dame in ein übermütiges Mädchen zusehen. Pedros Telefonnummer brachte die Jugend in ihr Gesicht zurück, es wurde rosig und glatt; die bislang eher stille Frau lachtelaut, erzählte angeregt, gestikulierte lebhaft. Obwohl sie nichts als Mineralwasser trank, hatte sie ein Rausch erfasst, der Rausch der Erinnerung. Sie hatten sich einst gekannt, Pedro und sie, das ist jetzt fünfzig Jahre her, fünfzig Jahre. Sie waren sich zum ersten Mal bei einem FDJ-Festival begegnet, Johnny spielte Piano in einer Band, die sich »Fünf Dumme Jungs« nannte, FDJ – Fünf Dumme Jungs; allein mit dem Namen begeisterte die Band ihr Publikum. Veronika fand Pedro lustig, gebildet, männlich auch, er war sieben Jahre älter als sie und hatte gerade die Musikhochschule abgeschlossen.
Zwei Tage später, in gewohnt deutscher Frühe, rief unser Freund bei uns an. Die für sein Alter erstaunlich sonore Stimme klang begeistert. Veronika Hoffmann hat mich angerufen, du hast ihr meine Telefonnummer gegeben. Mit der war ich doch mal zusammen, sagte er unternehmungslustig. Wir haben ein Kind, Veronika und ich, das war noch vor Manon. Von einem Kind hatte er uns nie was erzählt, damals nicht und auch nicht an den langen, ruhigen Abenden im Garten seines Ferienhauses, der Pedro, den wir kannten, hatte kein Kind. Ich wollte sie heiraten, sagte er, aber sie wollte bei ihrem Mann bleiben und kriegte das Kind, unsere Tochter ist jetzt einundfünfzig. Kennst du sie, deine Tochter? Er habe versucht, sie kennenzulernen, sie habe das nicht gewollt. Ich freue mich so, dass du Veronika meine Telefonnummer gegeben hast, sagte Pedro überschwänglich, wir haben gestern zwei Stunden telefoniert, sie ist ja nun auch verwitwet – morgen rufe ich sie wieder an. Die Telefonate waren das Schönste, wird Veronika später sagen.
Sie lud ihn zu sich nach Berlin ein und stand pünktlich am Flughafen, auf dem Arm Happy, das Hündchen.Sie wartete auf den Mann, der ihre Jugendliebe gewesen war. Die ganzen Wochen über hatte sie sein Bild vor sich gehabt: markantes Gesicht mit gebogener Nase, dunkles, längeres Haar; nicht sehr groß, muskulös. Schnell in den Bewegungen war er gewesen, wach im Denken. Eine Wiederbegegnung mit dem Urbild hatte sie natürlich nicht erwartet, allerdings auch nicht das, was jetzt auf sie zu kam: ein glatzköpfiger, kleiner alter Mann mit einem gewaltigen, nach oben gezwirbelten Schnurrbart und einer blauen Beule auf der Stirn. Er bewegte sich ganz langsam an Krücken und trug eine Halskrause. Pedro war in seinem Haus in Brasilien gestürzt und hatte sich einen Halswirbel gebrochen, noch mal gut gegangen, das wusste sie ja, aber die Folgen der Operation machten ihm sichtlich zu schaffen. Die frische Beule am Kopf stammte von einem zusätzlichen Sturz auf dem Londoner Airport. Veronika freute sich dennoch auf den Abend mit ihm. Nur, dass er gleich vom Flugplatz aus auf einen Empfang des Arnold-Schönberg-Kreises wollte. Mit Krücken ins Taxi, sie fuhr mit, und sie war enttäuscht. Das Wiedersehen nach fünfzig Jahren hatte sie sich anders vorgestellt. Dann nahm Veronika Pedro in ihrer geräumigen Altbauwohnung auf, wo er ein Vierteljahr blieb.
Er sitzt die liebe lange Nacht mit Rotwein wach und steht erst mittags ganz gemächlich auf, erzählte sie mir ein paar Wochen später am Telefon, der hat ganz andere Lebensgewohnheiten als ich. Sie sei Frühaufsteherin, gehe zeitig zu Bett und trinke keinen Alkohol. Pedro und ich, wir passen nicht zusammen, sagte sie traurig. Ich könne ihr glauben, würde sie ihn nicht schon seit ihrer Jugend kennen, würde sie das alles nicht akzeptieren, auch nicht seinen maroden Zustand.Unsere Telefonate, sagte sie noch einmal, unsere Telefonate waren das Schönste.
Pedro und Veronika. Ich fühlte mich für ihr Glück verantwortlich. Ich hatte ihr seine Telefonnummer gegeben, ich hatte die beiden zusammengebracht, ich bin schuld, wenn es nicht gut geht; das ist irrational, aber es ist so.
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