Spaziergang im Regen
das Sutton Place?« fragte Shara mit Hinsicht auf das Hotel in Toronto, das bei Filmstars beliebt war, besonders während des jährlichen Internationalen Filmfestivals.
Diese Frage löste den Kommentar zu den ›Hollywood-Typen‹ aus.
»Na, jetzt versuchen Sie bloß nicht, einen auf ›benachteiligte Musikerin‹ zu machen. Sie sind eine Dirigentin. Außerhalb der Opernwelt ist das das Berufsfeld mit dem höchsten Prozentsatz an Primadonnen.«
Nun musste Jessa lachen. »In meinem Berufsfeld gibt es prozentual gesehen fast nur Männer. Können Männer Primadonnen sein?«
»Die schlimmsten«, sagte Shara, mit weit geöffneten Augen. Es gefiel Jessa, wie diese zwei Wörter in dem irischen Akzent klangen. »Ich habe einmal mit einem Schauspieler gearbeitet, der nicht zum Set kommen wollte, weil er nicht die richtige Marke Mineralwasser in seinem Wohnwagen hatte. Wir filmten in Colorado, fast hundert Kilometer entfernt von der nächsten Kleinstadt – und glauben Sie mir, diese Kleinstadt mit ihren fünfundsiebzig Bewohnern hatte kein San Pellegrino auf Vorrat. Wir mussten einen halben Tag lang um ihn herum filmen, während per gemietetem Helikopter das blöde Wasser eingeflogen wurde.«
»Ich habe von Dirigenten gehört, die musikalische Primadonnen sind und aus unterschiedlichen Gründen aus einer Probe davongelaufen sind – und ich war selbst im Publikum, als Kurt Masur einfach mitten aus einer Vorstellung der New Yorker Philharmoniker in der Avery Fisher Hall gestürmt ist, weil die Leute zu viel gehustet haben. Aber persönlich kann ich mit keiner Geschichte aufwarten, die dem auch nur nahe kommt.«
»Kann nicht behaupten, dass ich ihm das übelnehme. Ich hätte selbst mehrere Male fast empört den Saal verlassen. Es gehört nicht zu den Menschenrechten, ein Konzert zu besuchen. Wer eine Erkältung hat und nicht mit dem Husten aufhören kann, muss nicht unbedingt zu einem Konzert gehen. Es ist unglaublich egoistisch, die anderen Zuhörer dazu zu zwingen, sich dieses Räuspern, Husten und Niesen anzuhören, besonders während der leisen Passagen, in denen wir uns vollständig auf die Musik konzentrieren wollen, ja müssen.«
Sharas Worte waren so inbrünstig, dass Jessa fühlte, wie etwas in ihr schmolz. Sie versuchte krampfhaft, ihre Abneigung gegen all das aufrechtzuerhalten, wofür Shara Quinn stand, aber die Frau war bezaubernd, witzig und sprach mit aufrichtiger Leidenschaft über Musik. »Hören Sie mal, wenn Sie nichts anderes vorhaben, möchten Sie mich zu meinem Termin begleiten? Er ist an einer Schule in Stoke Newington, wo ich ein außerlehrplanmäßiges Musikprogramm mitfinanziere. Na ja, eigentlich ist es ein umfangreicheres Kunstprogramm, aber mein Schwerpunkt liegt auf der Musik.« Jessa konnte nicht glauben, dass sie diesen Vorschlag gemacht hatte, und auch Shara schien überrascht. Jessa ging umgehend in Abwehrstellung. »Sie müssen natürlich nicht kommen, das ist Ihnen doch klar. Ich dachte nur –«
»Ich wüsste nicht, was ich lieber täte«, unterbrach Shara, während sie in Gedanken überschlug, wie spät sie dann nach Hause käme und wie sie Derek erklären konnte, dass sie zu dem Grillabend, zu dem er seine Freunde eingeladen hatte, statt nur verspätet nun überhaupt nicht erscheinen würde.
»Wirklich?« Jessa hatte ein Glitzern in den Augen, aber dann spürte sie Sharas sorgfältig verborgene Unentschiedenheit, und ihr wurde bewusst, dass sie sie in Zugzwang gebracht hatte. »Ich möchte nicht, dass Sie sich verpflichtet fühlen mitzukommen, nur weil ich es vorgeschlagen habe. Ich versuche einmal im Monat dort vorbeizuschauen, soweit es mein Terminkalender erlaubt, also wenn Sie eine Vorstellung davon bekommen möchten, was ich so in meiner Freizeit mache, dann können Sie gern nächsten Monat kommen. Der einzige Unterschied ist, dass ich heute einen Vortrag vor einer Gruppe Eltern mit Kindern halten werde, die noch nicht im Programm sind. Es ist alles sehr ungezwungen, und ich sorge immer dafür, dass Instrumente vorhanden sind, damit die Kinder sie anfassen und hören können. Es ist nicht besonders aufregend, also wenn Sie andere Pläne haben . . .«
»Keine, die ich nicht ändern kann«, sagte Shara bestimmt.
Aus Forschersicht wäre es unschätzbar, Jessa dabei zu beobachten, ihre Kunst einer Gruppe von Kindern und Erwachsenen nahezubringen. Sie ignorierte die nagende Befürchtung, dass Derek ihre Abwesenheit als symbolträchtig interpretieren und sie emotional
Weitere Kostenlose Bücher