Spaziergang im Regen
dafür bestrafen würde. Und sie ignorierte auch die noch beunruhigendere Vermutung, dass weniger ihr Forschungsdrang für ihre Entscheidung verantwortlich war, als ihr Bedürfnis, noch mehr Zeit mit Jessa verbringen zu wollen.
Sharas Beruf bedingte eine Art Vereinsamung, und sie hatte nur wenige enge Freundschaften. Zu allem Überfluss waren die Menschen, mit denen sie befreundet war, über zwei Kontinente verstreut und selbst sehr eingespannt, weshalb sie nicht oft die Gelegenheit bekam, Zeit mit ihnen zu verbringen. Und es war nicht einfach, neue Freundschaften zu schließen, wenn neue Bekannte in ihr nur die berühmte Schauspielerin sahen und nicht die Frau dahinter. Bei Jessa gab es keinen Zweifel, dass das Angebot, mehr Zeit mit ihr zu verbringen, der Frau galt und nicht der Schauspielerin, denn die schien sie aus Prinzip zu verachten. Jessa hatte die Einladung aus beruflicher Höflichkeit ausgesprochen, und Shara hatte sie aus gleichem Grund angenommen. Allerdings wussten beide, dass es eher ein Angebot war, einen in guter Gesellschaft verbrachten Nachmittag in den Abend hinein zu verlängern, weil sie sich so überraschend gut verstanden.
»Und noch was«, unterbrach Jessas Stimme Sharas Gedanken. »Ich will nicht, dass Sie sich über Petula lustig machen.«
Shara schaute sie gekränkt an. »Glauben Sie wirklich, dass ich mich über ein Kind lustig machen würde, das dabei ist, ein Instrument zu erlernen?«
»Petula ist kein Kind – obwohl, sie ist noch kein Jahr alt . . .«
Shara riss ihre Augen auf. »Sie haben ein Baby?« Es überstieg ihre Vorstellungskraft, wie jemand so Berühmtes eine Schwangerschaft vor der Welt verbergen konnte. Sie sah sich im Raum um und runzelte die Stirn. Es gab in der Wohnung keinerlei Dinge, die auf ein Baby hinwiesen. Und Jessas Körper sah auch nicht so aus, als hätte sie im vergangenen Jahr entbunden. Shara errötete leicht, als ihr diese Beobachtung bewusst wurde.
»Petula ist kein Baby, obwohl ich schon finde, dass sie eine ganz Süße ist.« Sie machte sich inzwischen ganz offen lustig, während Shara sie verdrießlich anfunkelte. Jessa lachte über Sharas Groll, bevor sie einlenkte. »Petula ist mein Auto. Ein Retroauto aus den Sechzigern, und sicher nicht das, was Sie sonst gewöhnt sind, aber es macht Spaß, damit zu fahren. Ich weiß, Sie leben in Hollywood, wo alle Ferraris und DeLoreans haben –«
»Ich habe einen ganz normalen BMW«, entgegnete Shara, und Jessa lachte. Shara wusste sogleich, worüber sie sich amüsierte und lächelte. »Na gut, es ist nicht so fürchterlich normal, sich einen BMW leisten zu können, aber es ist ein kleiner, der nicht die Welt gekostet hat.« Sie legte die Stirn in Falten. »Ich hasse es, aufzufallen.«
»Das war dann aber eine seltsame Berufswahl, oder nicht?«
»Ich bin nicht darauf aus gewesen, ein ›Filmstar‹ zu werden. Ich war völlig vernarrt in Literatur, vor allem in Theaterstücke von Tschechow und Pirandello – und ja, auch von Shakespeare. Ich war ein typischer Feingeist, der schauspielern wollte. Ich hatte angenommen, nein gehofft, dass ich als grantige, alternde, ehemalige Charakterschauspielerin aus dem Londoner Westend enden würde, die an einer guten Schauspielschule vor Studenten beißende Texte zitiert. Vor allem wollte ich für Minuten oder Stunden aus meinem eigenen Leben in das einer anderen entfliehen.« Sie wandte den Blick ab, um ihre plötzliche Verwundbarkeit zu verschleiern.
»Wie auch immer, ich hätte nie gedacht, dass ich mir einen Hollywood-Lebensstil erlauben könnte, und Derek behauptet, dass ich noch immer nicht akzeptiert habe, dass ich es kann. Ich bevorzuge die Sichtweise, dass ich nicht ändern will, wer ich bin, wegen dem, was ich tue. Als ich damals für kleine Nebenrollen in BBC-Dramen vorsprach und eine Lehre als Bühnenmeisterin absolvierte, um dort jobben zu können, wo ich eigentlich arbeiten wollte und nicht zum Beispiel als Bedienung in einem Restaurant, konnte ich mir kein Auto leisten. Ich schwor mir, wenn ich jemals ein geregeltes Einkommen haben sollte, würde ich mir einen brandneuen, schwarzen BMW kaufen, mit funktionierender Heizung, und mit dem ich nicht auf der Autobahn liegenbleiben würde, wie mit meinem letzten Auto, als es dann endlich den Geist aufgab.« Sie zuckte mit den Achseln und schaute dann wieder zu Jessa. »Aber ich muss zugeben, dass ich nie so weit gegangen bin, dem Teil einen Namen zu geben.« Diese stichelnde Bemerkung lockerte die
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