Spaziergang im Regen
Stimmung wieder auf, aber was sie gesagt hatte, bewegte Jessa weiterhin.
»Hm. Haben Sie mal erwogen, dass Ihr Auto sie vielleicht im Stich gelassen hat, weil es sich benutzt gefühlt hat? Weil Sie es nie genug gemocht haben, ihm einen Namen zu geben?« neckte Jessa.
»Hätte ich das in Erwägung gezogen, hätte ich es als Neurose abgetan.« Shara teilte genauso gut aus, wie sie einsteckte, womit sie Jessa wieder zum Lachen brachte, und es gefiel ihr, dass sie das konnte.
»Na gut, dann wollen wir mal los. Brauchen Sie ein Telefon?«
»Nein, ich habe mein Handy. Ich bin so sehr an dieses blöde Ding gewöhnt, dass ich mir keine Telefonnummern mehr merken kann.«
»Petula steht in der Tiefgarage. Sie ist übrigens nach Petula Clark benannt, mit der mich in meinen prägenden Jahren mein verrücktes, schwedisches Kindermädchen vertraut gemacht hat. Die war ganz wild auf britische Popmusik, aber weil sie 1971 nach Deutschland gezogen war, wo ihr Zugang zu neuen Stücken begrenzt war, steckte sie in einer Art musikalischer Zeitschleife. Meine liebsten musikalischen Erinnerungen aus der Zeit sind mein Musiklehrer, wie er mir Beethovens Pathétique vorspielte, weil ich traurig war und er mir zeigen wollte, wie Musik unsere Gefühle ausdrücken kann, und Pia, wie sie zu Downtown durchs Wohnzimmer tanzte. Seitdem ist mir Petula Clark ans Herz gewachsen.«
Shara grinste. »Und Beethoven, ohne Zweifel.«
Jessa zwinkerte ihr zu. »Er ist nicht übel. Aber ich wollte meinem geliebten Mini-Cabrio keinen Namen geben, der sich auch nur im entferntesten wie ›Ludwig‹ anhört.«
Kapitel 5
T rotz der Nervosität, die sie vor ihrer Abfahrt zur Schule gezeigt hatte, schien sich Jessa völlig heimisch zu fühlen, als sie sich über die Freuden klassischer Musik mit einer Gruppe von Kindern unterhielt, die bereits ganz klare Vorstellungen davon hatten.
Shara, noch immer in ihrer ›Verkleidung‹, und einfach vorgestellt als Jessas Bekannte, beobachtete das Geschehen von einem Stuhl nah der hinteren Wand und war versucht, sich Notizen zu Jessas Körpersprache zu machen, während sie die herausfordernden Fragen der Kinder beantwortete. Jessa hatte eine weiße Bluse über ihr Tanktop gezogen, aber Shara fand, dass sie immer noch eher wie eine Rockmusikerin als eine klassische Dirigentin aussah.
Die Eltern im Raum verhielten sich vorwiegend still. Einige von ihnen waren Fans von Jessa und ein bisschen eingeschüchtert oder einfach nur erfreut darüber, dass sie überhaupt mit ihrem Nachwuchs sprach, der bislang noch wenig bis überhaupt kein Interesse für Musik gezeigt hatte. Andere wiederum fühlten sich offensichtlich unbehaglich bei dem Thema; sie hatten sich anfangs über die Kosten für Instrumente und Unterricht erkundigt und über den Zeitaufwand, der zuungunsten der akademischen Fächer ausfallen würde. Die Frau, die Jessa vorgestellt hatte, übernahm die Beantwortung der eher allgemeinen Fragen und erläuterte, dass die Instrumente zwar vom Gemeinderat und den Sponsoren des Programms gestellt werden würden, dass aber leider die Eltern für einen Teil der Finanzierung des Unterrichts aufkommen müssten, trotz der Unterstützung von ehrenamtlichen Fachleuten wie Jessa.
Shara unterdrückte ein Schmunzeln, als ein besonders beharrlicher Junge erneut das Wort ergriff. »Also, als Dirigentin müssen Sie die Musik all der einzelnen Musiker lesen, aber wenn die das selbst auch tun, was ist dann überhaupt Ihre Aufgabe?«
Jessa bemühte sich nicht darum, ihr Lächeln zu unterdrücken. »Musik, geschriebene Musik, ist nicht so exakt wie . . . sagen wir mal, Physik.« Amüsiert erleichtertes Gemurmel erklang von den anderen Kindern. »Es scheint zwar so zu sein, wenn du damit anfängst, es zu lernen«, fuhr sie rasch fort, als ihr ursprünglicher Fragesteller bereits zu einem Einwand ansetzen wollte, »aber es gibt tatsächlich Spielraum, in bezug auf so Dinge wie das Tempo. Meine Aufgabe ist es, all das, was der Komponist aufgeschrieben hat, auf eine bestimmte Art zu interpretieren und zusammen mit den Musikern diese Interpretation zum Leben zu erwecken. Also, das Orchester könnte zwar ohne einen Dirigenten spielen, aber es würde viele Probestunden dauern, um all die Interpretationen auf einen Nenner zu bringen, die jeder Musiker für seinen Part im Sinn hat. Und selbst dann würde das daraus resultierende Konzert anders sein, als ein Dirigent es sich vorgestellt hätte. Es wäre zwar technisch einwandfrei, wenn wir
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