Spaziergang im Regen
von einem großen, professionellen Orchester sprechen, aber es wäre sehr ungewöhnlich.«
»Heißt das, dass Sie auch alle Instrumente im Orchester selbst spielen können müssen?« fragte vorn ein Mädchen staunend.
Jessa schüttelte den Kopf. »Gewiss nicht so gut wie die einzelnen Musiker, aber ich muss verstehen, wie sie klingen und miteinander harmonieren.«
»Und Sie müssen auch dafür sorgen, dass alle richtig spielen?« Ein widerstrebend respektvoller Ton schwang in der Stimme des Jungen mit, der zuvor gedacht hatte, dass Dirigenten überflüssig seien.
Jessa schenkte ihm ein Lächeln und zwinkerte ihm zu. »Na ja, das rede ich mir zwar ein, aber in der Tat sind alle diese Musiker vollendete Profis. Sie brauchen meine Hilfe nicht, um richtig zu spielen, sondern um ihnen eine einheitliche Interpretation zu bieten, die für alle Musiker im Orchester gleich ist.«
»Aber wieso wäre es denn sonst so ungewöhnlich?« fragte ein noch immer verwirrter Junge mit gerunzelter Stirn.
»Na gut«, sagte Jessa, »wer von euch kann pfeifen?« Fast jedes Kind zeigte auf. »Ich bin jetzt mal die Komponistin und schreibe eine Anweisung für die Pfeifen.« Sie nahm einen Notizblock zur Hand und schrieb etwas, dann zeigte sie mit dem Finger auf ein Mädchen. »Du hast aufgezeigt, also mach mal das hier.« Sie deutete auf den Notizblock, auf dem stand: ›Pfeif laut‹. Das Mädchen spitzte die Lippen und pfiff.
Jessa nickte anerkennend. »Danke.« Sie wandte sich an die Gruppe und zeigte auf ein Mädchen, das weiter hinten saß. »Jetzt du. Bitte befolge diese Anweisung.« Das Mädchen schob vier Finger in den Mund und pfiff sehr laut.
Jessa nickte und wandte sich an den Jungen, der die Frage gestellt hatte. »Und jetzt du.« Der Junge machte mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis, steckte sie zwischen die Zähne und ließ einen schrillen, betäubend lauten Pfiff ertönen. Spontaner Applaus erklang.
»Da hast du’s«, erklärte Jessa. »Drei Pfiffe, alle laut, aber trotzdem haben wir drei völlig verschiedene Töne. Ähnliches passiert mit jeder subjektiven Anweisung, wie zum Beispiel ›pianissimo‹. Wisst ihr, was das heißt?«
Einige Kinder zeigten auf, und Jessa ließ einen Jungen aus der hinteren Reihe antworten.
»Ja, aber selbst unter Profis kann es leichte Unterschiede geben, was genau unter ›ganz leise‹ zu verstehen ist. Und diese Unterschiede können den Klang eines Instruments im Vergleich zu den anderen verändern, und damit auch das Gefühl, das durch das Musikstück ausgedrückt wird.«
»Wie wird man denn Dirigentin?« Die Frage kam von einem Mädchen, das am Rand der Gruppe saß und bislang Sharas Aufmerksamkeit entgangen war. »Weil, mein Papa hat alle diese Klassik-CDs, und ich habe da außer Ihnen noch nie eine Dirigentin gesehen; ich habe auch noch nie einen schwarzen Dirigenten gesehen, weder eine Frau, noch einen Mann.« Das Mädchen starrte Jessa mit ihren dunklen Augen an, in deren Tiefe sich Neugier, Skepsis und Hoffnung mischten.
»Es gibt einige schwarze Dirigenten«, bestätigte Jessa, »aber noch nicht annähernd genug.« Sie erzählte von einem jungen, schwarzen Dirigenten, der kürzlich beim Edinburgh International Festival aufgetreten war. »Es ist leider so, dass ihr von ihm gehört hättet, wenn ihr in Deutschland leben würdet und nicht in Großbritannien, obwohl er britisch ist. Wir brauchen mehr junge Leute, egal welcher Hautfarbe und welchen Geschlechts, die sich für Musik und fürs Dirigieren begeistern. Das ist einer der Gründe, warum ich finde, dass das Programm hier super ist.« Sie schaute zu dem Mädchen, das nach Jessas ehrlicher, wenn nicht sogar ermutigender Antwort nun weniger skeptisch dreinblickte. »Lernst du schon ein Instrument?«
Das Mädchen nickte. »Klavier, aber ich bringe mir auch selbst Gitarre bei, mit Informationen aus dem Internet.«
Jessa grinste. »Na, dann hoffe ich mal, dass wir dich nicht als Rockstar verlieren.«
»Besonders, wenn du wie Jessa ein Klassikstar werden kannst«, neckte Shara, woraufhin sich einige Anwesenden umdrehten, um zu sehen, wer da gesprochen hatte, obwohl die meisten lediglich lachten – besonders als Jessa aufgrund des Kommentars rot wurde.
»Ich gebe zu, ich bin ziemlich bekannt, innerhalb des relativ kleinen Kreises von Klassikmusikern, aber doch weitaus weniger, als meine Bekannte, die diesen Kommentar abgeben hat.« Wie du mir, so ich dir, dachte Jessa. »Meine Damen und Herren, für den Fall, dass Sie
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