Spaziergang im Regen
als dass sie einen auf Garbo hätte machen können.
Sie entschied sich für eine einfache schwarze Hose, eine schwarze Bluse und dazu ein schwarzes Leinenjackett, für den Fall, dass die Klimaanlage mal wieder zu kalt eingestellt sein würde. Ihre Haare reichten ihr mittlerweile wieder bis zu den Schultern, und sie band sie zurück in einen Pferdeschwanz. Sie setzte das Brillengestell mit Schildpattmuster auf ihre Nase, deren Gläser ohne Stärke waren, weil sie bis jetzt noch nie erkannt worden war, wenn sie sie trug.
Shara hatte die Rezensionen in der Zeitung gelesen, die am Morgen mit ihrem Frühstück, das sie nicht angerührt hatte, auf ihr Zimmer gebracht worden war, und wusste daher, dass Jessas Interpretationen von Sibelius’ Finlandia und Holsts Die Planeten bei den Kritikern gut angekommen war.
Eine Aufführung von Mars, der Kriegsbringer zu erleben, war an sich schon eine packende Erfahrung, aber mit Jessa am Taktstock schlug Sharas Herz schneller, und eine Gänsehaut legte sich über ihren Körper. Die Exaktheit während der dramatischen letzten Takte war so unglaublich, dass Shara aufspringen und laut applaudieren wollte. Das Feingefühl, das das Orchester danach bei Venus, die Friedensbringerin bewies, war erstaunlich rührend. Unter normalen Umständen, dachte Shara, hätte sie es sicher sehr beruhigend empfunden, aber als Lucia Scattaglia als Solistin aufstand, konnte sie das Bild nicht aus ihrem Kopf bekommen, wie Lucia fast nackt aus Jessas Schlafzimmer gekommen war. Sie arbeiten wieder zusammen. Haben sie ihre Beziehung wieder aufgenommen? Ist sie diejenige, die mit Jessa in den Armen einschläft, Sex mit ihr hat und dabei die kleinen raunenden Laute hören darf, die sie dabei macht?
Die quälenden Erinnerungen und Fragen beschäftigten Shara so sehr, dass sie die zerbrechlich nuancierte Darbietung von Merkur verpasste, und als sie sich wieder aufs Konzert konzentrierte, spielte das Orchester gerade Jupiter mit der ihm gebührenden augenzwinkernden Präzision.
Wie sehr sie sich auch bemühte, sie nicht anzustarren, wanderte ihr Blick doch immer wieder zu Jessa, und sie fragte sich, ob Jessa auf irgendeine Weise ihre Anwesenheit im Raum spüren konnte. Sicher würde doch eine Liebe, die so stark war wie die ihre, sich dem Herzen und der Seele zu erkennen geben, der sie gehörte? Aber sie wusste auch, dass Jessa sich immer absolut auf die Musik konzentrierte.
Von dort aus, wo sie saß, in der ersten Reihe des Balkons rechts neben der Bühne, konnte sie flüchtige Blicke von Jessas Profil erhaschen, und manchmal von ihrem ganzen Gesicht, wenn sie sich nach rechts wandte, um den Kontrabässen und Celli ein Zeichen zu geben. Jessa schwitzte stark, und Shara erzitterte, als sie plötzlich wie in einer Rückblende Jessas nackten Körper sah, gegen den ihren gepresst, nachdem sie sich geliebt hatten, das feuchte Haar in gleicher Weise gegen ihre Stirn geschmiegt, aber mit einem Ausdruck befriedigter Trägheit im Gesicht.
Sie waren nun bei Saturn angelangt, mit seinen Untertönen von Unausweichlichkeit. Alles nimmt seinen Lauf, und so oft haben wir überhaupt nichts dabei zu melden. Shara hatte versucht, sich an den Mangel an Kontrolle über ihre Zukunft zu gewöhnen, aber keine Stunde verging, in der sie sich nicht wünschte, in ihrer Beziehung mit Jessa etwas ungesagt oder ungeschehen machen zu können. Sie war überzeugt, dass ihre Entscheidung, damals nicht mit nach Buenos Aires zu gehen, aus mehreren Gründen richtig gewesen war, aber sie hatte in ihrem Leben noch nie etwas so bitterlich bereut. Damit zu leben, zerstörte sie nun innerlich; egal was die Ärzte behaupteten, es hatte nichts mit einem Geschwür zu tun.
Sie beobachtete stolz, wie Jessa das Orchester durch die komplexen Akkorde und Tempi von Uranus, der Magier führte. Sie bildete sich das vielleicht ein, aber es war ihr, als ob das Orchester Jessa sehr viel öfter als sonst anschaute. Es konnte an der Komplexität des Werkes liegen, aber Shara nahm an, dass es deshalb war, weil Jessa so perfekt vorwegnahm, wo jedes Instrument zu jedem Sekundenbruchteil der Aufführung sein sollte.
Jessa dirigierte mit grenzenloser Energie und vollkommenem Einfühlungsvermögen für die Musiker, und doch blieb sie so sehr in die Musik selbst vertieft, so dass ihre Bewegungen anmutig und schön waren und sie oft mit halb geschlossenen Augenlidern wie entrückt schien.
Als die letzten, eindringlichen Töne von Neptun, der Mystiker ausklangen,
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