Spaziergang im Regen
nächsten Tage überstehen wollte. Sie beherrschte ihre Stimme lange genug, um ein Taxi zu bestellen, dann brach sie wieder in Tränen aus, als sie die Musik hörte: Jessa spielte Chopins Regentropfen-Prélude. Sie war sich nicht sicher, ob Jessa überhaupt bewusst war, was sie tat. Immer wenn Jessa litt, setzte sie sich ans Klavier und ließ ihre Finger ruhelos über die Tasten wandern. Wie zur Bestätigung erklang eine laute Kakophonie aus dem Wohnzimmer, als ob Jessa zu Sinnen gekommen wäre und ihre Hände auf die Tasten geknallt hätte.
Shara zog den Koffer hinter sich her, als sie sich auf den Weg zur Wohnungstür machte. Jessa saß am Klavier und starrte in ihre Richtung, und trotz der Entfernung konnte sie sehen, dass auch sie geweint hatte.
»Ich –« Shara wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie entschied sich dafür, ehrlich zu sein, was konnte es jetzt noch schaden. »Ich weiß, ich verlange viel, aber bitte, Jessa, gib mich nicht auf.« Und ohne Jessa Gelegenheit zu geben, darauf etwas zu antworten, verließ sie die Wohnung.
Kapitel 33
S hara betrachtete sich argwöhnisch im Spiegel. Wenn sie einatmete, konnte sie ihre Rippen zählen. So dünn zu sein stand ihr nicht, und sie sah auf den Tag genau so alt aus, wie sie war. Maestra hatte beim derzeitig stattfindenden Internationalen Filmfestival in Toronto Weltpremiere gehabt und würde in drei Wochen in allen Kinos sein.
In den Monaten, seit sie Jessa das letzte Mal gesehen hatte, hatte sie gelernt zu überleben, aber es war nicht einfach gewesen. Dieses Mal lag es nicht an ihr; Jessa weigerte sich, sie zu sehen. Sie war hin und her gerissen: Sollte sie eine Pressekonferenz einberufen und verkünden, dass sie lesbisch ist – alles versuchen, um Jessas Aufmerksamkeit zu erlangen und sie zurückzugewinnen –, oder sollte sie eine ganzseitige Anzeige in einer Zeitschrift für klassische Musik aufgeben, um Jessa mitzuteilen, dass sie sich zum Teufel scheren sollte. Sie wollte sie anschreien, weil sie ihr gezeigt hatte, wie es war, von ihr geliebt zu werden, nur um dann diese Liebe wieder zu entziehen und eine verheerende Leere zu hinterlassen, die sie auseinanderzureißen drohte.
Sie steckte in einer Drehpause, die zeitlich mit dem Filmfestival zusammentraf, das für die Filmbranche jedes Jahr wichtiger wurde. Maestra war für mehrere Preise nominiert worden, und es wurde von Shara erwartet, den Film zu bewerben, obwohl sie sich am liebsten versteckt hätte. Sie war in derselben Stadt wie Jessa, und sie wusste nicht, ob sie damit umgehen könnte, zufällig mit ihr zusammenzutreffen – vor allem, wenn sie mit einer anderen Frau zusammen wäre. Allein der Gedanke an diese Möglichkeit schlug ihr auf den Magen und aufs Herz. Die Ärzte meinten, es wäre ein Magengeschwür, aber Shara wusste, dass es nur Kummer war.
Sie begann sich langsam anzuziehen. Sie wusste, dass es vollkommen verrückt war, was sie vorhatte, aber sie konnte nicht anders. Ein Freund hatte für sie eine zurückgegebene Karte gekauft, und sie hatte vor, zu einem Konzert des Torontoer Symphonieorchesters in der Roy Thomson Hall zu gehen, das Jessa dirigierte. Es war in dieser Woche das einzige Konzert des TSO, weil die Konzerthalle wie üblich während des Festivals für Filmvorführungen umgebaut worden war. Sie war wieder in ihren ursprünglichen Zustand zurückversetzt worden, für das Konzert am Abend und für die Veranstaltung, auf die die ganze Stadt mit Spannung wartete und die Shara am meisten fürchtete: die Preisverleihung am letzten Abend des Filmfestivals.
Es war das erste Mal in ihrer Karriere, dass sie für eine Darstellung nicht anerkannt werden wollte, aber sie war vertraglich daran gebunden, sich sehen zu lassen.
»Nicht, dass ich denken würde, dass du der Typ dafür wärst, Shara«, hatte Peter fast entschuldigend erklärt, »aber ich weiß aus bitterer Erfahrung, dass manche Schauspieler plötzlich schüchtern werden, wenn es um Preisverleihungen geht, und ich muss mit deinem Erscheinen rechnen können, wenn unser Film aufgeführt oder ausgezeichnet wird, vor allem in Cannes, Sundance, Toronto, bei den Golden Globes, den People’s Choice Awards und, natürlich, bei der Oscarverleihung.«
Damals hatte sie gedacht, dass es ja das mindeste wäre, was sie tun könnte, und hatte der vertraglichen Klausel zugestimmt. Jetzt hoffte sie, dass ihre fast panische Angst vor Fernsehkameras nicht noch schlimmer werden würde, denn sie war noch nicht berühmt genug,
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