Spaziergang im Regen
dir abhängig zu machen. Und anscheinend bin ich die einzige Person, die mir dabei helfen wird, das zu ändern. Ich weiß nicht, warum ich meine Zeit damit vergeudet habe herzukommen!«
»Warum hast du es dann getan?« fragte er verärgert. Sie konnte sich kaum daran erinnern, ihn jemals zuvor zu einem solchen Gefühlsausbruch bewegt zu haben.
»Weil ich mich verliebt habe. Ich habe eine Person gefunden, mit der ich den Rest meines Lebens verbringen will. Aber wir sind deshalb nicht zusammen, weil du mir nur beigebracht hast, wie man sich gefühlsmäßig abkanzelt. Ich habe mich so sehr darum bemüht, meine Liebe auf jede nur erdenkliche Art zu zeigen, aber als es dann ums Eingemachte ging, hatte ich zuviel Angst. Angst, dir wieder einen Grund zu geben, mich zu missbilligen. Angst, dass wenn ich meine Liebe so naiv verschenken würde wie ein Kind es tut, es dann auch wieder genauso enden würde: in Ablehnung und Schweigen. Das ist so verdammt krank – jetzt, wo ich es so klar erkenne –, dass ich nicht verstehen kann, wie ich das jemals zulassen konnte.« Der Fluch glitt ihr ganz einfach über die Lippen, obwohl es sie sonst in der Gegenwart ihres Vaters entsetzt hätte. »Ich bin unfähig, wenn es um echte Liebe geht, weil ich nichts habe, wonach ich mich orientieren kann.« Sie lachte verbittert. »Weißt du, du musst überhaupt nichts sagen. Ich glaube, ich habe gefunden, wonach ich hier gesucht habe.« Damit drehte sie sich auf dem Absatz um und stürzte auf die Tür zu. Die Frage traf sie wie ein Schlag zwischen die Schulterblätter.
»Wie heißt sie denn?«
»Woher –?«
»Ich bin nicht gut darin, meine Gefühle offen zu zeigen, Shara, aber ich kenne meine Tochter. Diese jungen Männer, die durch dein Leben stolziert sind, haben doch nicht mal an deiner Oberfläche gekratzt. Nach einer Weile habe ich mich gefragt, warum das wohl so ist.«
»Ihr Name ist Jessa Hanson. Und jetzt, wenn du mich bitte entschuldigst, muss ich herausfinden, ob sie mich noch haben will.«
Sie starrte wie benommen auf das Telefon. Sie hatte nicht geahnt, dass ihr Vater – zum ersten Mal in ihrem Leben – nicht nur indirekt eingestehen würde, dass er ihre Karriere verfolgte, sondern außerdem auch noch so klingen würde, als hätte er nichts dagegen, dass sie lesbisch war. Ist das vielleicht immer so? Wenn du etwas nicht mehr brauchst, kommt es plötzlich in dein Leben? Sie hoffte, dass das nicht wirklich der Fall war, denn sie würde Jessa immer brauchen.
Kapitel 34
L isa und Jessa saßen draußen auf der Terrasse hinter Jessas Haus und nahmen ein frühes Abendessen zu sich. Das Haus lag östlich der Torontoer Innenstadt, dort, wo die Stadt den Steilklippen von Scarborough wich. Einige Meter hinter der Terrasse führten steile Stufen und ein Holzgeländer zu einem Kieselstrand hinunter. Die Wellen des Ontariosees schlugen keine vier Meter von der letzten Stufe entfernt sanft gegen die Kieselsteine, aber Jessa liebte ihren Ministrand, denn obwohl er nur gut zwanzig Meter lang war und offiziell der Provinz Ontario gehörte, war er vollständig abgeschieden und nur über die Stufen auf ihrem gemieteten Grundstück zu erreichen.
Es war warm, obwohl der Nachmittag bereits dem Einzug des Abends Vorzug gewährte, und Lisa war dankbar für den Schatten, den die Bäume über ihnen boten, trotz des Eichhörnchens, das in einem davon saß und darauf bestand, die beiden Frauen immer dann mit Eicheln zu bombardieren, wenn sie am wenigsten damit rechneten.
Als sie nach Toronto gezogen war, hatte Jessa sich gegen eine luxuriöse Wohnung in einem der zahlreichen Hochhäuser entschieden; Lisa wusste, es lag daran, dass es sie an Shara erinnert hätte. Sie hatte sich auch dagegen entschieden, in Rosedale zu wohnen, einer wohlhabenden, mit Bäumen gesäumten Enklave mitten in Toronto, wo viele der Förderer des Orchesters ein Haus besaßen. Statt dessen hatte sie ein Haus gemietet, das jenseits des Stadtviertes The Beaches lag, das besonders bei kinderlosen Paaren mit gutem Einkommen beliebt war, aber noch nicht ganz im Stadtteil Scarborough, wo viele der neuen Einwanderer ein Zuhause gefunden hatten.
Dank eines alten Baumbestands auf dem Grundstück war Jessas Haus von der Straße abgeschirmt, und aus den Fenstern der hinteren Zimmer hatte sie eine wunderbare Aussicht auf den See, die sie auch auf der Terrasse mit den ausgeblichenen Terrakotta-Fliesen genießen konnte und in dem Freiluftwhirlpool, den sie allerdings bislang noch
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