Spekulation in Bonn
Müller warf einen Blick auf das Hinweisschild mit dem verheißungsvollen Spruch: »Willkommen in diesem Waldgebiet. Du findest hier Ruhe und Erholung!« Nach großer Lyrik klang das gerade nicht; allerdings war es auch kein Grund, sich gleich am nächsten Ast aufzuhängen.
Lupus ging den Rest der Strecke zu Fuß. UNI 12/16 fuhr im Schrittempo hinterher. Der übliche Aufmarsch am »Tatort« hatte begonnen. Der Streifenwagen erhielt über Funk den Auftrag, die Zufahrt für Unbefugte zu sperren, und setzte bis zum Willkommensschild zurück.
Lupus ließ sich viel Zeit. Er schritt langsam aus und nahm die Eindrücke der Landschaft in sich auf. »Reiner Waldfrevel, sich hier aufzuhängen«, dachte er, als schließlich das Ziel erreicht war und der unvermeidliche »Augenschein« genommen werden mußte.
Der Notarzt begrüßte ihn fröhlich, lobte den Reiz des frühen Morgens und stellte ungerührt fest: »Der ist schon seit ein paar Stunden tot. – Haben Sie gesehen, der Mann hängt an einem Abschleppseil.«
Vorarbeiter Lehmacher hatte seinen Trecker in einem Nebenweg abgestellt und trat hinzu. Lehrling Uwe saß immer noch sinnend auf dem Baumstamm. Lehmacher fragte vorwurfsvoll: »Muß der Christenmensch da nicht abgeschnitten werden?«
Lupus sah auf: »Was sagen Sie?«
Der Vorarbeiter setzte an: »Ich meine…«
»Nein, Doktor, Sie – was ist mit dem Seil?«
Der Arzt zeigte mit dem Daumen über die Schulter: »Sehen Sie selbst!«
Lupus ging zögernd und angewidert näher an den Baum heran und richtete den Blick nach oben. In der Tat: Der Tote hing in der doppelten Schlinge eines Abschleppseils aus Hanf.
Lupus ging zu den Kollegen der Spurensicherung: »Wenn ihr hier fertig seid, den Ast hinter der Aufhängung absägen und den Strick mit dem Kameraden runterlassen. Schaffen wir das?«
Doch zunächst umkreiste das Team der Spurensicherung den makabren Ort in immer enger werdenden Ringen. Nichts deutete darauf hin, daß hier ein fremdes Fahrzeug gehalten hatte oder daß fremde Hände im Spiel gewesen sein könnten, um den Mann an den Ast zu hängen. Der ausgewachsene Stubben beim Stein 431 C bot jedem Lebensunwilligen genug Trittmöglichkeiten, um ein Seil hochzubringen, es durch den Karabinerhaken zu ziehen und sich dann in die Schlinge fallen zu lassen. Der Abstand der Füße zum Boden betrug kaum einen halben Meter. Selbst wenn die Füße den Boden noch berührt hätten, wäre die Aktion tödlich gewesen. Lupus wußte von den Lehrgängen in Kriminalistik, daß man sich sogar im Knien oder Sitzen erhängen konnte. Ein Eigengewicht von knapp vier Kilogramm genügt, um die Halsschlagader zusammenzuquetschen und Bewußtlosigkeit herbeizuführen. Niemand kann sich dann noch selbst aus der Schlinge befreien. Das hat schon so mancher unterschätzt, der seinem Partner »nur mal so« einen Schrecken einjagen wollte. Zehn Minuten später sind die Schäden am Gehirn irreparabel. Dieser Tote hing – physikalisch gesehen – völlig problemfrei am Seil. Das würden auch die Fotos bestätigen, die in schneller Folge von allen Seiten geschossen wurden. Dann kam die Freigabe der Leiche durch den Leiter der Spurensicherung.
Vorarbeiter Lehmacher scheuchte seinen Lehrling hoch, um die Säge vom Traktor zu holen. »Los, Jüngling, pack schon mit an. – Der beißt nicht mehr.«
Uwe hatte lange genug den Toten angestarrt und war froh, daß das Schauspiel ein Ende fand. Jedenfalls würde er den Mädchen in der Disco erzählen können, wie er es geschafft hatte, den Erhängten aus dem Baum zu holen. Das ergab Gesprächsstoff für viele Stunden.
Die Zähne der Säge fuhren durchs Holz. Ein paar ungeübte Griffe, ermunternde Zurufe, und der Mann aus dem Baum lag am Wegesrand.
Lupus mußte sich noch einmal überwinden, als er in die Anzugtaschen des Toten griff. Er fand eine Brieftasche mit Ausweisen und Geldscheinen und einen Ring mit drei Schlüsseln. Der Tote war ein Dr. Jochen Korbel, sechsundvierzig Jahre alt, wohnhaft in Bonn 2, Bad Godesberg. Das zweite Dokument wies ihn aus als Mitarbeiter der Gesellschaft für Datensicherheit – GeDaSi –, die wenige hundert Meter hinter dem Parkplatz ihren Geschäftssitz hatte.
Lupus ließ die fragenden Blicke der Anwesenden ungerührt an sich abprallen und sagte kurz zu den uniformierten Kollegen: »Ich werde das Weitere veranlassen. Bitte laßt den Leichnam ins Institut schaffen und sperrt das Gelände ab, bis CEBI neue Weisungen erteilt.«
Jetzt ging alles sehr schnell. Das
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