Sperrzone Fukushima
flatternden Wand aus blauer Abdeckplane hängen; wie sie wirken, hängt ganz davon ab, in welchem Winkel der Kopf geneigt ist. Die Überlebenden, die sich die Bilder ansehen, bewahren in bester japanischer Tradition die Ruhe, lassen einander mit einem höflichen » hai, domo! « vor, damit auch andere einen guten Blick auf die schaurigen Gesichter werfen können, deren Augen meist geschlossen sind.
Eine Frau erläuterte einer anderen: »Ich bin auf der Suche nach meiner Schwiegermutter hier, aber das ist nicht leicht, weil die Gesichter aufgedunsen sind, und ich habe die falsche Nummer angegeben; deshalb konnte ich sie nicht auf Anhieb identifizieren …«
Am anderen Ende des langen Gevierts aus Sonnenlicht schlug ein Priester eine Glocke, und eine Fotografie blickte auf ein Beet voller Blumenspenden herab. Über dem rituellen Gefäß verbeugten sich Verwandte; Kerzen flackerten. Der Priester verbeugte sich. Mir schmerzte die Kehle vom Staub.
Weil ich mehr erfahren wollte, bat ich einen Polizisten um Auskunft, der mich an seinen Vorgesetzten verwies, der nichts ohne seinen Oberboss tun konnte, der mir meine Frage, wie viele Menschen in Ishinomaki umgekommen seien, mit der perfektenAntwort vergolt: »Zu Zahlen im Einzelnen äußern wir uns grundsätzlich nicht.« Ich dankte ihm mit einer Verbeugung und sagte, in diesem Fall habe ich keine weiteren Fragen; er wurde rot, verbeugte sich tief und entschuldigte sich dafür, dass er mich hatte warten lassen.
Lassen wir also die Geschichten vom Verlust zumindest für den Moment mit geschlossenen Augen ruhen (die Bulldozer ziehen noch mehr lange schmale Leichengräben in den Erdboden, zwanzig Leichen pro Reihe, drei behelfsmäßige Friedhöfe in Ishinomaki und eine lange grüne Reihe von Soldaten der Selbstverteidigungsstreitkräfte in zwei Abteilungen, die auf der Suche nach Leichen Häuser aufbrechen), während wir überlegen, welchen Sinn wir in ihnen finden können – wenn denn ein Sinn in ihnen liegt. In diesem Zusammenhang möchte ich Sie nun erneut mit Takehiros Mutter bekannt machen, Frau Utsumi Yoshie.
»Was kann man, wenn überhaupt, aus diesem Ereignis lernen?«, fragte ich sie.
»Mit dem 11. März ist etwas vorbei. Ich habe das Gefühl, etwas Neues hat begonnen. Wir haben nie die Erfahrung gemacht, alles zu verlieren, nie so extrem. Lernen im positiven Sinne kann man daraus«, sie lachte, »alle Wertgegenstände im zweiten Stock aufzubewahren!«
»Werden Ihre Lebensumstände sich verschlechtern?«, fragte ich sie.
»Natürlich glaube ich daran, dass alles besser wird«, antwortete sie und saß dabei neben mir im schmutzigen Schutt in ihrem Haus, von zerschlagenem Hausrat umgeben.
»Warum?«
»Nun, das weiß ich auch nicht. Der Fortgang 22 des Alltagslebens wird ein neues Gefühl für den Wert der Dinge schaffen. Wer anders denkt, kommt nicht weiter.«
Ich sagte ihr, wie tapfer ich sie und alle anderen fand, worauf sie anmerkte, sie nehme seit einiger Zeit Stunden im Spiel des Koto, eines traditionellen Saiteninstruments, dessen Spiel michgelegentlich in den abgelegenen Teehäusern Kyotos und Kanazawas beglückt hatte: Langsame, leise und (in meinen Ohren) traurige Noten ließen aus den Melodien alter Zeiten ein verschwommenes Gespensterantlitz auferstehen. Ich werde hoffentlich nie vergessen, wie es für mich war, als die wunderschöne alte Geisha Kofumi-san mir in jener kleinen Kammer in Gion das »Schwarzhaarlied« vortanzte, auf das Kawatata und Tanizaki in ihren größten Romanen anspielen. 23 Ich freute mich, dass auch Frau Utsumi diese Weise, deren bloße Erwähnung sie leise lächeln ließ, kannte und sogar beherrschte. Einen flüchtigen Augenblick lang lebten wir beide wieder im Japan des 10. März 2011 – jenes Tages, bevor Ishinomaki in die Nachrichten kam.
Ich fragte sie, ob sie Zeit habe, ihr Koto für mich zu spielen, aber das Instrument war von der schmutzigen Welle überflutet worden. Es befand sich gerade in Reparatur. Sehr leise sagte sie: »Für mich ist ein Koto etwas Lebendiges, also war ich sehr traurig. Wir haben unseren Hund verloren, aber als ich das Koto gesehen habe, ganz voller Schlamm, war ich so traurig …«
Ich fragte ihre Söhne, welchen Besitztümern sie am meisten nachtrauerten. »Allen!«, lachten sie fröhlich. Da es nicht mehr genügend Stühle gab, standen sie im bitteren Staubgestank dieser dunklen und frostigen Ruine um uns herum.
Und was hielten sie alle von dem Reaktorunfall?
»Ich glaube, man kann
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