Sperrzone Fukushima
zum Fähranleger geschleppt hatten, ließ ich den Blick hügelan über die Betonbrocken und durch die Stahlstreben schweifen, über Häuser, die zerdrückt worden waren wie Streichholzschachteln, über Stühle und Futons; dort stand ein Haus, dessen Obergeschoss unversehrt aussah, aber das Erdgeschoss war komplett verschwunden, von einer Mauer abgesehen. Der Schutt lenkte meinen Blick zu zwei roten Dächern und einer Kiefer empor, die jemand auf die althergebrachte japanische Art zu wolkenartigen Laubläppchen getrimmt hatte.
Die ungleichmäßig wummernde Fähre brachte Paletten mit Apfelsaft und andere Vorräte. Ein langhaariger Jugendlicher, auf dessen T-Shirt EIN FRÖHLICHES 2009 stand, gehörte zu den vielen Menschen mit Mundschutz. Ein winziges Mädchen in einer pinken Regenjacke saß auf dem Schoß ihrer Mutter, spielte mit einer Spielzeugpistole, lachte entzückt und streckte die Hand verständnislos nach all den Schiffswracks am Horizont aus. Hier und da trieb Holz im Wasser, und ein gesunkenes Schiff lag da wie von feindlichen Flugzeugen versenkt. Die Finger und Klauen der Wracks erhoben sich aus dem frostkalten Meer. Nach einer halben Stunde Fahrt durch schmutzigen Schlick und einen Flickenteppich aus Schaumstoff und Styropor, aus buntem Müll, hindurch unter einer Möwe im Tiefflug, vorüber an einem einsamen Bambuspfahl und dem orangefarbenen Bug eines Schiffes, der kopfüber aus dem Wasser ragte wie der Schnabel eines toten Tümmlers, legten wir auf der Insel Oshima an (165 Kilometervom Reaktor; Bevölkerung: ca. 3000), wo Frau Professor Morimotos Student Murakami Takuto uns erwartete.
Die Geschichte der Familie Murakami ist die letzte Tsunami-Geschichte, die ich erzählen werde. Die Familie war von altem Schrot und Korn, ihre Vorfahren hatten im Bürgerkrieg des 12. Jahrhunderts, über den so viele große literarische Werke geschrieben wurden, in der Marine auf Seiten der Heike gekämpft. Der Anfang der Heike Monogatari ist nicht frei von Bezügen auf die Ereignisse, die dieser Essay beschreibt: »In jedes Mannes Haus erklingt die Glocke des Gion-Tempels und mahnt ihn, dass alles vergänglich ist. Die verwelkten Blüten der Salabäume an Buddhas Totenbett bezeugen, dass alles, was grünt, vergehen muss.« 27
Das Erdgeschoss ihres Hauses war halb überflutet worden. Der erste Stock war in Ordnung. Sie würden fast alle Elektrogeräte neu kaufen müssen, Reiskocher, Fernseher und Heizung, die leider und untypischerweise kein Erdgas verfeuert hatte.
Im Esszimmer, das nun reparaturbedürftig war, sagte Großmutter Fumiko (Jahrgang 1933) ganz langsam, das breite hübsche Gesicht schief gelegt: »Ich war im Garten, als das Erdbeben losbrach. Als es aufhörte, ging ich hinein; der Schaden war nicht groß, nur ein paar Gläser und Kerzenhalter. Dann hörte ich den Tsunami-Alarm: jemand von der Feuerwehr über Lautsprecher. Ich kann nicht laufen wie die anderen. Dann sah ich die Welle: viel Schaum, also war sie weiß. Sie war nicht hoch. Und dahinter sah ich eine zweite große Welle kommen, also versuchte ich wegzulaufen. Ich lief auf höheres Gelände. Wenn ich die große Straße genommen hätte, wäre ich ertrunken. Ich nahm den schmaleren Weg weiter oben. Ich sah mich um; das Nachbarhaus schwamm im Wasser. Danach nahm ich mir einen Bambusstab als Gehstock. Hier in der Stadt dient eine Grundschule als Notaufnahmelager. Dort wohne ich noch immer. Ich bin nur hergekommen, um Sie willkommen zu heißen.
Am Anfang konnten wir mit niemandem reden. Nach fünf Tagen kamen die Eltern, und ich erfuhr, dass die drei Enkelkinderüberlebt hatten. Es war so furchterregend, dass ich zitterte und nicht mehr aufhören konnte damit. Ich konnte nicht schlafen. Freunde haben mir Kleidung gegeben, Reisbällchen 28 und einen Futon, also geht es mir gut.«
Dann sagte sie: »Unsere Familie lebt seit 350 Jahren hier, und das Wort unserer Ahnen aus der Meiji-Zeit lautete, der große Tsunami könne nicht bis hier heraufkommen; daher sei dieses Haus sicher. Wenn ich auf das Wort meiner Ahnen vertraut hätte, wäre ich nicht mehr am Leben.«
»Sind Sie wegen des Unfalls in Fukushima besorgt?«
»Die Strahlung – wenn es regnet, dürfen wir nicht nass werden, haben sie gesagt …«
(Später sagte mir ihr Enkel: »Die Menschen auf dieser Insel verstehen überhaupt nichts von Radioaktivität.«)
Ich ließ meinen üblichen Spruch los, nach Hiroshima und Nagasaki sei es für mich besonders traurig, dass die Japaner erneut unter
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