Sperrzone Fukushima
dessen Zutaten zum Großteil verderblich waren. Herr Murakami sagte: »In den ersten fünf Tagen gab es nur ein Reisbällchen pro Tag, da habe ich abgenommen.«
Eine Stunde vor dem Abendessen hatte er mir schon eine Kostbarkeit versprochen: eine Flasche Sake, aus dem Obergeschoss gerettet, als das Meer sich wieder zurückgezogen hatte. Im Dunkeln war das durchweichte Etikett fast nicht zu erkennen. Wieder und wieder füllte er mir mein Wasserglas bis zum Rand und schenkte auch den anderen Gästen ein. Weil es mir peinlich war, so viel von ihm anzunehmen, plädierte ich schließlich auf einen Schwips, worauf er fröhlich fortfuhr, sich selbst nachzuschenken, nicht zuletzt, wie er anmerkte, weil Samstagabend sei. Immer wieder sagteer zu seiner Frau auf Englisch: » I love you. « Sie lächelte beglückt. Gern berichte ich, dass er es am nüchternen folgenden Morgen im Nieselregen wieder sagte.
Mitten beim Abendessen gab es plötzlich wieder Strom, alle riefen fröhlich » Surprise! «, und die Enkel grinsten im hellen Licht. Ich versicherte unseren beiden Gastgeberinnen, dass sie bei elektrischem Licht noch schöner seien, und die Großmutter legte sich die Hand über den lachenden Mund.
Wann immer ich Hiroshima erwähnte, wurde die ganze Familie still und traurig, also schnitt ich das Thema wirklich ungern an, aber ich hielt es für meine Pflicht, es noch einmal beim Patriarchen zur Sprache zu bringen; das war, als wir noch im Dunkeln aßen. Das Weiß seiner Augen schien zu flackern. »Weil der Wohlstand der Menschen von Fukushima auf der Fischerei beruht«, sagte er, »fürchte ich ihren Niedergang.« Es kam mir so japanisch vor, sich zuerst um die anderen zu sorgen! Er fuhr fort: »Atomenergie ist sehr gefährlich. Ich finde sie sehr gefährlich. Für mich ist sie wie Krieg.«
An jenem Nachmittag hatte ich Takuto gefragt, wie er sich seinen schlimmsten Alptraum vorstelle, und er hatte erwidert, nicht ganz eine Woche zuvor habe die japanische Regierung eingestanden, es handle sich um einen Reaktorunfall der Stufe 7, wie Tschernobyl: »Wie Tschernobyl. Vielleicht wird Oshima kontaminiert. Im Sommer kommt der Wind von Süden.«
III. IN DIE VERBOTENE ZONE
ICH WERDE MEINE SELBSTSÜCHTIGE Erleichterung beim Verlassen der Hässlichkeiten Kesennumas und Oshimas nicht verleugnen, ganz abgesehen von meiner Vorfreude auf eine sichere Rückkehr in die Heimat, wo solche Dinge nie passieren. (In den USA ist das Flutrisiko nur in New Orleans noch höher als in meiner Heimatstadt Sacramento.) Meinem Dosimeter zufolge war die Strahlung in Kesennuma und Oshima offenbar doppelt so hoch wie in Tokio: ein Millirem alle zwölf Stunden. Nun war die Zeit gekommen, nach Koriyama zurückzukehren und von dort aus ein, zwei Vorstöße in die Evakuierungszone zu wagen.
Um halb sechs Uhr morgens zeigte das Messgerät 2,2 an; seit dem Abend war die Anzeige einmal geklettert. Auf dem Tohoku Expressway um halb zehn, nach zwei Stunden Nieselregen, nördlich der Ausfahrt Ohira, waren es 2,3. Kurz vor ein Uhr nachmittags, als wir eben Koriyama erreichten, zeigte es 2,4 an. Um acht Uhr abends, zweifellos dank eines kleinen Ausflugs, den ich kurz nacherzählen werde, stand es auf 2,5, und vor sechs Uhr am folgenden Morgen hatte es glorreiche 2,6 Millirem zusammen: das Vierfache des Durchschnitts von Tokio, kurz gesagt. Der Zeitung zufolge lag das tatsächliche Niveau eher beim Vierundvierzigfachen von Tokio, 30 aber als Optimist werde ich weiter dem Spielzeug vertrauen, das Bob mir verkauft hat. Dies ist der richtige Ort für die Mitteilung, dass meine Dosimeter-Anzeige für Koriyama, der höchste Messwert eines 24-Stunden-Intervalls, abgesehen von den Tagen meiner zwei Interkontinentalflüge, gar nicht so schlecht ist: Sie summiert sich auf 146 Millirem pro Jahr. Ein amerikanischer Dosimetrist vertrat die Ansicht, bis zur Hälfte davon könne »natürliche« Hintergrundstrahlung sein, die mit der Katastrophe nichts zu tun habe. 31 Um meine Gefahrenschwelle von 5 Rem zu erreichen, würde ich über vierunddreißig Jahre in Koriyama abhängen müssen. Trotzdem, als junger Mensch würdeich in Koriyama vielleicht lieber nicht heiraten und Kinder großziehen. 32
DER WIND VOM MEER
Was den kleinen Ausflug jenes Tages angeht, will ich Ihnen berichten, dass die Dolmetscherin und ich uns kurz nach fünf Uhr abends, als der heftige und potenziell gefährliche Regen nachgelassen hatte, ein Taxi zum Komatsu-Schrein nahmen, von dem niemand von
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