Sperrzone Fukushima
Radioaktivität litten, worauf die alte Dame mit gefalteten Händen antwortete: »Ich möchte nur, dass sie vorsichtig sind.«
»Alle Kiefern sind umgestürzt und verschwunden«, sagte die Großmutter und streckte die linke Hand in die Richtung aus, wo sie einmal gewesen waren, über die Baumstümpfe und den Sand und über das Meer, dorthin, wo früher der große Felsen gewesen war, den die beiden Enkel beim Schwimmen ihr »Ziel« genannt hatten. »Von hier aus konnten wir die Sonne hinter den Kiefern aufgehen sehen. Wir waren so stolz darauf. Jetzt kommt das Meer einem näher vor. Das ist ein wenig unheimlich.«
Im Garten hatte sie Getreide angebaut, Raps, Spinat, Kürbisse und weißen Rettich. 29 Sie sagte: »Ich bin so einsam, seit ich nichts mehr habe, woran ich arbeiten kann.«
Die Dolmetscherin, Frau Professor Morimotos Student Takuto und ich machten einen Spaziergang. Unten an der nutzlosen Mole am zerstörten Strand fanden wir ein tropfnasses chinesisches Kinderbuch – es gehörte seinem verstorbenen Großvater. »Aber wir haben es sowieso nie gelesen«, lachte er und ließ es fürandere dort liegen. Ich stieß auf ein Feld, ganz übersät mit Jakobsmuschelschalen, auf einen Bambushain, in dem der Müll hing.
Wir begegneten einem Fischer in einer orangefarbenen Jacke; er ging davon aus, dass am 11. März ein Drittel der Inselbevölkerung umgekommen war. Er sagte: »Zuerst sind sie weggelaufen, dann sind sie wiedergekommen, um etwas Wichtiges zu holen; sie haben nicht überlebt.«
»Radioaktivität?«, schrie er. »Nein, das ist in Fukushima. Damit haben wir nichts zu tun.«
An ihm vorbei bis ans Ende des Betonpiers zu gehen war beinahe schön, die Möwen kreischten von ihrer kleinen Insel herüber, der Seewind duftete so angenehm, dass ich es nicht über mich brachte, einen Mundschutz zu tragen, mein Dosimeter stand noch immer auf 2,1. Die untergehende Sonne warf eine weiße Schleppe auf das Wasser, und hinter einer Wolke ratterte ein Hubschrauber, einer der Selbstverteidigungsstreitkräfte vermutlich. Als der Tag Schiffbruch erlitt, verschwanden die traurigen Zeichen des Tsunamis in den Schatten, bis Oshima fast unversehrt wirkte.
Takuto sagte: »Ich möchte für diese Insel tun, was ich kann. Ich möchte erwachsen werden und ein Mensch sein und helfen.«
Obwohl unsere Kleider inzwischen recht schmutzig waren (wir rechneten damit, sie nach dem Besuch im Krisengebiet wegwerfen zu müssen), erlaubte uns diese nette und gastfreundliche Familie nicht, unsere Schlafsäcke zu benutzen. Vater und Sohn legten den beiden Frauen Futons aus und stellten mir im Nebenzimmer ein Bett auf. Das bedeutete, dass alle anderen unten in den frostkalten Zimmern mit ihrem Schlickgestank schlafen mussten. Langsam und weiß flackerte die Taschenlampe unseres Gastgebers um seinen Bauch, das Handy von Frau Professor Morimoto leuchtete, während irgendein dummes Display ihren Studenten und sie zum Kichern brachte, die Dolmetscherin schaltete ihre Stirnlampe ein, die ihr Gesicht beleuchtete, und ich machte mir mit Hilfe meiner amerikanischen Taschenlampe, deren Licht gelblicher war als das aller anderen, Notizen.
Die Murakamis nahmen zwar ein halbes Dutzend Dosen mit amerikanischem Essen an, bestanden aber darauf, uns ein Abendessen zu kochen. Dankbar und beschämt kamen wir nach unten an den Tisch, wo Herrn Murakamis stoppeliges Gesicht mit seinem Schnurrbart im Licht der Petroleumlampe leuchtete. Er war stellvertretender Direktor einer Grundschule. Nach dem Erdbeben hatte er einigen Schülern erlaubt, nach Hause zu ihren Eltern zu fahren. Ich spürte, dass er Schuldgefühle hatte, weil Schlimmes hätte geschehen können; aber so wie die Dinge standen, hatten sie die Flutwelle überlebt. Er drängte mir ein Satellitenfoto des Katastrophengebiets von Oshima auf. Die Brille hoch in die Stirn geschoben, zeigte er mir auf der Karte das Haus der Familie. Er sagte: »Viel zu optimistisch.«
Die Mutter, Frau Murakami Kaoru, war in ihrer karierten Schürze fast immer auf den Beinen, ihre blassen Arme und Wangenknochen glänzten, die andere Großmutter nickte mit ihrem schweren Kopf langsam den beiden anwesenden ihrer drei Enkelkinder zu, während im Dunkeln Bananen und Aluminiumfolie zart leuchteten. Frau Murakami verbeugte sich ausnahmslos, wenn sie der Großmutter Essen anbot, mit einem höflichen » hai, dozo «. Ich weiß wirklich nicht, wie es ihr gelang, ohne Kühlschrank so schnell diesen improvisierten Eintopf zuzubereiten,
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