Sphaerenmusik
gern.
Draußen dunkelte es bereits. Mary fuhr gerade den Servierwagen herein, weil sich die schüchterne Eve noch immer zu ungeschickt beim Servieren anstellte. John erzählte währenddessen einige lustige Geschichten aus seinem Land, und die beiden jungen Mädchen kamen aus dem Lachen nicht heraus. Die Fenster waren weit geöffnet.
Auf einmal drangen Geigentöne herein, erst le ise, dann lauter, jubelnd, voller Süße und wieder voller Leidenschaft. Was für eine Musik, dachte Silvia, unirdisch schön, Sphärenmusik! Plötzlich sprang sie erregt auf und rief: „Das ist unmöglich! Pierre ist doch...“
John lachte dröhnend auf: „Fängt das schon wieder an? Bist du noch immer so abergläubisch? Glaubst du wirklich, dass Tote Geige spielen kö nnen? Na, und noch dazu einige Stunden vor Mitternacht. Schau dir lieber mal deinen Geist an. Er hatte sich bei uns schon längst angekündigt.“
Eine Ahnung stieg in Silvia auf. Sie rannte aus dem Esszimmer durch die Halle auf die Terrasse hinaus.
Mitten auf dem Weg, einige Schritte von ihr entfernt, stand ein Mann. Ein dunkler Umhang umgab seine Gestalt, ein großer Schlapphut beschattete sein Gesicht. Das Kinn auf die Geige gesenkt, den Bogen hin und her bewegend spielte er hingebungsvoll.
Erschrocken blieb die junge Frau stehen. Und es ist doch ein Geist, dachte sie und wich langsam zurück.
Da hob der Mann seinen Kopf, lachende Augen sahen sie an.
„Peter!“, rief sie jubelnd. „Peter!“
Silvia stürzte auf ihn zu. Er hatte seine Geige sinken lassen und schlang seinen freien Arm um die Taille der Geliebten.
Nachdem Silvia wieder zu Atem gekommen war, fragte sie voll heiterer Empörung: „Was soll diese Ma skerade?“
„Da ich gehört habe, dass du nur Geistermusik liebst“, antwortete Peter lächelnd, „blieb mir nichts anderes übrig, als dir als Geist au fzuspielen.“
„Ach, Peter, als Lebender bist du mir schon li eber. Verzeih mir meine hässlichen Worte von damals. Ich weiß jetzt, welche wunderbare Musik man einer Geige entlocken kann. Und du hast wirklich herrlich gespielt.“ Sie gab ihm einen liebevollen Kuss.
* * *
Fünf Jahre waren vergangen. Der Konzertsaal in Hamburg war überfüllt. In einer Loge nahe dem Podium befanden sich mehrere Personen. Da war das Ehepaar Peter und Silvia Volkmann. Neben ihnen saß die jetzt achtzehnjährige Pamela MacK ean. Sie trug ein grünes Abendkleid und sah mit ihren roten Locken allerliebst aus. An ihrer linken Hand glänzte ein Verlobungsring, den sie immer wieder verliebt betrachtete.
In der zweiten Reihe der Loge saßen Silvias Eltern, Sebastian und Hannelore Michaelis, sowie Pamelas Eltern, John und Elisabeth MacKean.
Und noch jemand befand sich in der Loge: Joan Galini, kaum mehr wiederzuerkennen. Sie trug ein elegantes dunkelblaues Abendkleid. Ihre Gesicht szüge wirkten nicht mehr verkniffen und vergrämt, ihre Haare waren nicht mehr grau, sondern schwarz gefärbt und modern frisiert.
Jetzt erhob sich Beifallssturm. Der berühmte Geiger Sandro Galini hatte das Podium betreten. Er verbeugte sich leicht vor dem Publ ikum.
Diejenigen, die ein Opernglas benutzten, b emerkten in seinem interessanten Gesicht feine, dünne Narben.
Jetzt legte er die Geige an das Kinn, seine A ugen suchten die Loge und seine Braut Pamela. Sekundenlang hob er den Geigenbogen zum Gruß. Dann spielte er, und alles versank in seiner Musik.
E n d e
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Alte Rechtschreibung * * *
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