Spiegelblut
mitarbeitest.«
»Und wenn ich es bin?«, fragte ich leise, jetzt vollkommen verunsichert, weil er schon derart feste Pläne für meine Zukunft geschmiedet hatte.
Er kam näher auf mich zu, hob mein Kinn mit den Fingerspitzen, so dass ich ihm in die Augen schauen musste. Ich versuchte, seinem Blick standzuhalten, doch ich sah das, was die Geschichten über die Halbseelenträger erzählten: eine Welt ohne Licht wie eine Finsternis ohne Hoffnung, gottverlassen und kalt. Ein Stück Blindheit, vor der ich solche Angst hatte. Meine Lider sanken herab.
»Sieh mich an!« Sein Daumen bohrte sich in meine Kinngrube und zwang meinen Kopf mit Nachdruck immer weiter nach oben. Die Spannung schmerzte in meinem Nacken, ich balancierte auf den Zehenspitzen. Als ich es nicht mehr aushielt, gab ich ihm nach.
»Wenn du ein Spiegelblut bist, gehören deine Kräfte den Dämonen.«
Meine Knie zitterten. Tränen rannen meine Wangen hinunter, zogen eine feuchte Spur über meinen Hals bis zu den Schlüsselbeinen.
»Damontez …«, protestierte Pontus im Hintergrund.
»Alles, was ich will, hast du gesagt!«, hörte ich ihn knurren. Die Haut um seine Nasenflügel schimmerte bläulich wie die eines Erfrierenden. Wie bei Kjell, erinnerte ich mich.
»Bete, dass du kein Spiegelblut bist!«, sagte er dann nach einer halben Ewigkeit und ließ mich ruckartig los.
»Sollte ich tatsächlich irgendwelche Kräfte haben, gehören sie mir«, flüsterte ich und krallte meine Finger verzweifelt in mein Sweatshirt.
Er antwortete nicht. Abschätzend betrachtete er mich von oben bis unten, öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, schwieg dann aber doch.
»Vielleicht kannst du ihr ein anderes Zimmer geben, eines, das weniger aussieht wie ein Kerker«, sagte Pontus jetzt. Ich warf ihm einen dankbaren Blick zu.
Damontez schüttelte den Kopf. »Du hast selbst gehört, dass sie nicht hierbleiben will. Sie wird versuchen zu fliehen. Wo wäre sie also besser aufgehoben? Außerdem weißt du genau, wieso sie hier unten sein muss.« Er wandte sich an mich: »Du musst dich unserem Tages- und Nachtrhythmus anpassen. Jetzt ist es Mitternacht. Du wirst noch ein paar Stunden wach bleiben, erst danach darfst du schlafen. Hast du mich verstanden?«
Ich nickte nur, für Widerspruch viel zu eingeschüchtert.
»Gut. Morgen Abend beginnen wir mit einer kleinen Einführung in unsere Geschichte – und vor allem mit den Regeln, die im Sanctus Cor für dich gelten.«
»Welche Regeln?«, fragte ich schwach.
In Damontez’ Gesicht erschien ein feines Lächeln, das Triumph in Pontus’ Richtung hieb wie eine Peitsche. »Ganz besondere Regeln. Das erfährst du morgen.«
Mit diesen Worten ließen sie mich zurück.
Die nächsten 18 Stunden verbrachte ich allein. Dreimal kam Damontez zu mir und wies mich wortlos auf eine winzige Toilette gegenüber meines Kerkers. Auch wenn mich sein Erscheinen jedes Mal zu Tode erschreckte, war ich erleichtert, dass er dieses menschliche Bedürfnis nicht vergaß. Aus dem rostigen Wasserhahn trank ich mehrere Hände voll Wasser und ignorierte meinen knurrenden Magen. Ich würde ihn um nichts bitten. In den dazwischenliegenden Stunden meiner Einsamkeit durchlief ich das ganze Repertoire an Gefühlen, zu denen ein Mensch fähig war.
Ich ließ all meine Erinnerungen an Finan aufleben. Ich verfasste gedanklich Briefe an Eloi, warf ihm die vielen Weihnachtsfeste ohne Tannenbaum und Geschenke vor, hasste ihn dafür, dass er meinen Hamster Zarastro hatte verhungern lassen, als ich im Landschulheim gewesen war. Stundenlang hatte ich Küchenschränke inspiziert und Kommoden durchwühlt, war unter Betten und Tischen herumgerutscht, bis Eloi ihn wortlos aus der Mülltonne fischte und mir die Wahrheit gestand. Und trotz allem, was er getan oder nicht getan hatte, vermisste ich ihn schrecklich. Ich vermisste den Eloi, der nicht aus jeder Pore nach Alkohol stank, der für mich kochte, wenn ich aus der Schule kam, und der mich Puce nannte, wenn er mir zeigen wollte, dass er mich gern hatte. Trotz aller Widersprüchlichkeiten liebte ich ihn, vielleicht weil er der Einzige war, den ich lieben konnte.
Als sich zum vierten Mal die Tür öffnete, stand nicht Damontez vor mir, sondern ein blasses Mädchen mit heller Haut. Pflaumenförmige Ringe, die mich an Leichenflecken erinnerten, zogen sich rund um ihre Augen. Fast hätte ich geglaubt, dass das Mal auf ihrer Stirn hervorquellende Adern wären, aber als ich einen unsicheren Schritt auf sie zuging,
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