Spiegelblut
ein Pferd, Vollblüter, Unverschämtheit! Was war ein Spiegelblut? Hatte es vielleicht etwas mit meinen seltsamen Visionen zu tun: mit der Rue de Turin, der Hitze und dem Gefühl, die Sonate nicht nur zu hören, sondern auch in Farben zu sehen? Konnte man Töne überhaupt sehen? Und wieso hatte Pontus’ Blut geschmeckt wie die Nacht? Seit wann hatte die Nacht einen Geschmack? Verlor ich womöglich den Verstand? Das mit Finan früher, das war gewesen, was es gewesen war: ein Spiel! Wonach schmeckt Hoffnung? Welchen Klang hat Eifersucht? Ich hatte es mir nur vorgestellt und nicht wirklich gefühlt so wie heute!
Ich konnte nicht sagen, wie viel Zeit vergangen war, aber der enge Raum schien meine Gedanken ebenso einzuschränken wie meine körperliche Freiheit. Was zum Schluss, als ich alles gedacht und selbst Eloi vermisst hatte, übrig blieb, war die Angst, nicht zu wissen, was mit mir geschehen würde. Als irgendwann die Tür aufflog, war ich beinahe erleichtert.
Meine Augen sahen ihn, aber ich erfasste ihn nicht. Ich konnte nicht sagen, wie groß er war oder welche Farbe sein Haar hatte, es war, als fehlte mir jeder Vergleich.
Die Luft, die er mit sich herein trug, war so still! Ich konnte kaum mehr atmen. Meine Furcht blitzte wie ein gleißender Sonnenfänger, es fing an wie bei Kjell, doch diesmal behielt ich die aufsteigenden Worte für mich:
Er ist mein Freund, so wie er dein Freund ist. Deine Begierde ist meine Begierde. Erinnerst du dich an die Zeit, als wir fast noch Kinder waren? Das Mädchen mit dem hellen Blut, rot wie Granatapfelsaft, hast du gesagt …
Speichel sammelte sich in meinem Mund, mein Herz flimmerte, von einem zarten Verlangen erfüllt, das ich nicht kannte. Es war herb wie saure Johannisbeeren und prickelte meine Kehle hinunter, als inhalierte ich Kohlensäure.
Was ist das? Es fühlt sich an, als würde sich in mir ein Transparent aufspannen.
Blut sackte mir in die Beine, und ich landete auf den Knien. Ich versuchte, ihn zu fokussieren, aber ich begriff ihn nicht.
»Steh auf und atme!« Jemand zog mich am Oberarm in den Stand.
»Atme!«
Ich atmete und atmete und atmete und bekam trotzdem zu wenig Sauerstoff. Alles in mir verschwamm: meine Vergangenheit, Finan, Eloi, die Geschichten über die Halbseelenträger, sogar ich selbst. Von oben sah ich auf die Schemen eines dunkelhaarigen Mädchens herab, ohne es wirklich zu kennen. Ich hörte, dass Pontus und Damontez miteinander sprachen, mit mir sprachen, aber das Mädchen schüttelte nur immer wieder den Kopf.
»Wie alt bist du?«
Das Mädchen hob abwehrend die Hände.
»Welche Fähigkeiten hast du bereits? Antworte!«
»Gib ihr kurz Zeit, sich an deine Nähe zu gewöhnen. Sie ist ganz verstört.«
»Du hättest mir sagen können, dass es ein Mädchen ist!«
Schweigen und Stille. Er wartete tatsächlich, und langsam ließ das Gefühl der Verwirrung nach, ich glitt in meinen Körper zurück, wie wenn man aus einer Narkose erwacht. Ich blinzelte angestrengt und musste mich zwingen, nicht noch einmal die Luft anzuhalten: Damontez war nicht nur atemberaubend schön, sondern auch jung. Er schien mir sogar jünger als Pontus. Sein schwarzes, schulterlanges Haar glänzte wie indische Seide. Es fiel in ein Gesicht, das Stolz trug wie eine Maske. Ich zwinkerte noch einmal, der Raum bekam wieder Konturen, ebenso meine Gedanken. Nur wer ich selbst war, hatte ich vergessen oder vielleicht nie gewusst.
»18«, stammelte ich völlig aus dem Zusammenhang heraus. Ich spürte keine Kälte, so wie ich sie bei Kjell und den anderen Vampiren gefühlt hatte. Aber irgendetwas zerrte an ihm, riss an ihm wie ein Sturm, rüttelte ihn durch und hob ihn fast aus den Angeln. Und äußerlich diese aufgeladene Stille, als könnte das, was den Sturm im Inneren hielt, jederzeit zerreißen. Halbseelenträger – war das sein Erbe?
»Nenn mir einen Grund, wieso ich annehmen sollte, dass sie ein Spiegelblut ist.« Seine Augen waren schwarz, vollständig dämonisch schwarz, ohne Pupille. Sie waren es, die mir am meisten Angst machten. Er sah mich grimmig an, so als wäre ich nicht nur ein ungebetener Gast, sondern sein persönlicher Feind.
Pontus antwortete ihm in einer Sprache, die für mich den Charme einer Gebrauchsanweisung hatte. Damontez’ Augenbrauen wanderten nach oben, er starrte mich weiter an wie ein Historiker, der eine Reliquie katalogisieren wollte. Unwillkürlich hielt ich erneut die Luft an, als könnte ich zu viel seiner Aura in mich
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