Spiegelblut
erkannte ich das Siegel in schwachen Ansätzen. Sie war eine Lichtträgerin, keine Vampirin.
»Ich bin Shanny«, sagte sie monoton, genauso gut hätte sie sagen können: Es schneit.
»Coco«, erwiderte ich ebenso unbeteiligt. Ich fragte mich, ob sie absichtlich unhöflich oder einfach nur zurückhaltend war.
Sie balancierte ein Glas Wasser und ein Stück Brot auf einem mittelalterlichen Servierbrett, das viel zu schwer für sie schien.
»Etwas zu essen und zu trinken für dich. Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat. Ich musste Damontez daran erinnern.« Sie lächelte flüchtig. »Nach dem Frühstück darfst du in den Waschraum.«
Ich nickte ihr einen kurzen Dank zu, nahm ihr das Tablett ab und setzte mich damit im Schneidersitz auf die Matratze. Sie selbst blieb im Türrahmen stehen und beobachtete mich schweigend.
Ich hasste es, beim Essen angestarrt zu werden, schon in der Schule hatte ich mich zum Lunch immer allein in eine Ecke verzogen. Mein knurrender Magen gewann jedoch die Oberhand.
»Morgen kannst du mit uns essen, wenn du gut mitarbeitest, sagt Damontez.«
Ich hielt mitten im Kauen inne. »Mit euch?«
»Mit uns Lichtträgern.«
Mein Herz machte einen freudigen Hüpfer bei der Aussicht, mit anderen Menschen zusammen zu sein. Aber wieso waren überhaupt Lichtträger in Damontez’ Castle? Ich hatte mich bereits über Milos Anwesenheit bei Kjell gewundert. So wie ich Eloi verstanden hatte, kämpften die Lichtträger gegen die Vampire und nicht für sie, es sei denn …
»Bist du, seid ihr … auch gefangen?«, erkundigte ich mich vorsichtig. Sie sah so mitgenommen aus, die Augenringe schrien geradezu nach Blutarmut. Es hätte mich nicht überrascht, wenn Damontez auch Lichtträger hier einsperrte. Außerdem – wer blieb schon freiwillig bei jemandem wie ihm?
»Nein!« Das klang energisch, energischer als ihre gesamte Gestalt vermuten ließ. Ihr strohblondes Haar war zu zwei dünnen Zöpfen geflochten, die bis über die Schultern fielen. Alles an ihr schien dürr: Finger, Hals, Statur. Sie war vielleicht fünf Zentimeter größer als ich, höchstens einen Meter siebzig, wog aber sicher zehn Kilo weniger.
»Ist außer mir noch jemand eingesperrt?«, fragte ich bitter.
»Du bist nicht eingesperrt, nicht wirklich!«
»Gott sei Dank«, spottete ich sarkastisch, »und ich dachte schon, ich würde bei Wasser und Brot in einem Verlies sitzen.«
Shannys Mundwinkel zogen sich nach oben. Das Lächeln machte sie hübsch, auch wenn sie mir etwas seltsam vorkam. »Du bist witzig«, sagte sie dann nur, mehr nicht, keine Erklärung, wieso ich ihrer Ansicht nach nicht eingesperrt war, obwohl ihr doch die Realität geradezu einen Kinnhaken verpassen musste.
»Was machen Lichtträger bei Vampiren? Ich dachte, ihr jagt Dämonen?«, wollte ich wissen.
»Du meinst die Ursprünglichen? Die gibt es sogar heute noch. Das sind Dämonenjäger, die sich weder den Nefarius noch den Angelus anschließen. Sie töten alle Vampire.«
»Nefarius? Angelus?« Verwirrt schüttelte ich den Kopf.
»Die Nefarius sind seelenlose Vampire. Nefarius stammt aus dem Lateinischen und bedeutet gottlos. Die Angelus besitzen ihre Seele noch, den Namen kannst du dir sicher selbst ableiten – Engel. Mehr dazu wird dir Damontez erklären. Aber die Lichtträger spalten sich nun mal auch in diese zwei Lager. Um es auf den Punkt zu bringen: die Guten und die Bösen.«
»Und ihr seid die Guten?«, fragte ich mit leichtem Spott.
Shanny nickte lächelnd. »So in etwa. Wir helfen den Angelus, die Menschen vor den Nefarius zu schützen. Damontez’ Clan gehört zu den Angelus.«
»Und was trinken die Angelus?«, erkundigte ich mich schnell. Solche Sachen sollte man wissen, wenn man bei ihnen in einem Verlies festsaß.
»Menschliches Blut – und natürlich das anderer Vampire.«
»Menschliches Blut?« Meine Stimme fiel. Ich schob den Teller mit dem restlichen Baguette zur Seite.
»Ja, manchmal. Sie bezahlen dafür. Sehr gut sogar, aber es gibt auch Angelus, die jagen und hinterher das Gedächtnis ihrer Opfer löschen.«
Mir wurde schlecht. Unwillkürlich griff ich mir an die Kehle. Ob man mein Blut auch schon genommen hatte, ohne dass ich es wusste? Oder noch nehmen würde …
Shanny lächelte beruhigend. Mir fiel auf, dass sie wunderschöne hellbraune Augen hatte. »Dein Blut werden sie vorerst nicht anrühren, keine Sorge.«
Vorerst?
»Ist Pontus noch hier?« Ein paar Krümel von mir abklopfend stand ich auf. Ich musste ihn sehen.
Weitere Kostenlose Bücher