Spiegelblut
hingen wie bodenlange Schleppen vor den Fenstern – die einzigen Lichtquellen waren die achtarmigen Kronleuchter, deren dunkelblaue Kerzen flackerten wie Königslichter. In Anbetracht des roten Teppichläufers gab ich Shanny ihre Schuhe zurück, die mir mindestens zwei Nummern zu groß waren. Das Gewebe des Teppichs war weich und samtig, und die goldenen Paspeln kitzelten mich an den nackten Sohlen. Wir kamen durch einen weitläufigen Herrensaal mit antikem Holzboden und einem doppelten Kamin. Ohrensessel und Massivholztische luden zum Verweilen ein und versprachen Behaglichkeit. Wenn ich Damontez davon überzeugen könnte, dass ich nicht bei der erstbesten Gelegenheit fliehen würde, bekäme ich vielleicht ein Zimmer im Hauptturm. Angesichts des umstellten Castles ehrte es mich beinah, dass er mir überhaupt eine Flucht zutraute.
»Schlafen Vampire bei Tag?« Möglicherweise könnte ich fliehen, wenn sie sich in ihre Särge betteten.
»Sie schlafen niemals.«
Super!
»Kennst du viele?«
Ihr schmaler Schwanenhals zog sich zusammen, als würgte sie die Wahrheit hinunter. »Genug, um es zu beurteilen!«, sagte sie dann entschieden. »Und jetzt geh, Damontez ist nicht sonderlich geduldig. Und wenn er schlechte Laune hat, ist er ungenießbar.«
»Wie ist er sonst so?«, fragte ich leise und betrachtete intensiv meine Finger, als wäre die Antwort nicht so wichtig.
»Das lässt sich nicht einfach so nebenbei beantworten. Find es raus.«
»Ich will nicht so lange bleiben, um es herauszufinden.«
»Ja, sicher nicht. Aber du hast keine Wahl. Nicht bei ihm.«
Es gab keinen Spiegel. Das war das Erste, das mir an dem großräumigen Badezimmer auffiel. Nach der herrlich heißen Dusche zog ich an, was man mir auf einem Hocker sorgfältig gefaltet hingelegt hatte. Kakifarbene Unterwäsche, Jeans und ein schlichtes schwarzes Oberteil mit Rundhalsausschnitt. Schuhe oder Socken sah ich nicht. Ich sparte mir das Föhnen und kämmte meine Haare lediglich mit den Fingern durch. Im Geiste plante ich meine Flucht: Informationen über das Castle sammeln, einen Geheimgang entdecken und beim höchsten Sonnenstand einfach abhauen – okay, ich hatte den Orientierungssinn eines Lemmings, aber so schwer konnte es gar nicht sein. Als ich auf den Flur trat, war ich um eine Hoffnung reicher.
»Passen dir meine Klamotten?« Shanny warf mir ein scheues Lächeln zu.
»Es geht. Das Shirt sitzt etwas eng oben.« Ich zupfte nervös an dem Saum herum. Ich vermisste meine Kapuze.
»Ich bringe dich jetzt zu Damontez.« Wieder ein Lächeln, diesmal leicht mitleidig.
Ich nickte ergeben, es würde sich ja nicht vermeiden lassen. Shanny lotste mich durch einen unrestaurierten Gang zurück in den finsteren Keller. Meine Angst vor der Dunkelheit war wie ein Trauma aus einem anderen Leben, wie ein Phantomschmerz, für den es keinen Anlass mehr gab. Ich konnte nur hoffen, dass Damontez regelmäßig die Kerzen in meinem Verlies auswechseln würde.
»Besitzt er wirklich nur eine halbe Seele?«, fragte ich Shanny, während wir die Treppe hinabstiegen. Ich begann wieder zu frieren, ich hätte meine Haare doch föhnen sollen.
Sie antwortete nicht sofort. Erst als ich vor einer massiven Eichentür stehen blieb, sagte sie: »Ich spüre keine Seelen. Ich kann auch nicht zwischen beseelten und seelenlosen Vampiren unterscheiden, wenn ich ihnen begegne. Ich erkenne es allein an ihrem Verhalten. Pontus behauptet, du seist ein Spiegelblut. Also solltest du es am besten wissen.«
»Wissen es alle? Ich meine, warum ich hier bin?« Irgendwie machte es mich nervös, vielleicht etwas zu sein, von dem ich noch nicht einmal wusste, was es war.
Shanny schüttelte den Kopf. »Nein. Nur die engsten Vertrauten von Damontez und Pontus sind eingeweiht.«
»Du gehörst dazu?«, fragte ich leicht fassungslos. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie ein so junges Mädchen wie Shanny zu einer solchen Stellung in dem Clan gekommen war.
Aber sie nickte nur und wies mit ihrer Hand auffordernd zur Tür: »Damontez wartet nicht gern.«
»Ja«, flüsterte ich, plötzlich von einer schrecklichen Furcht ergriffen. »Ich weiß.« Ich griff ins Leere, als ich meine Kapuze suchte, strich mir stattdessen über die feuchten Haare und holte tief Luft.
6. Kapitel
»Jetzt schauen wir in einen Spiegel
und sehen nur rätselhafte Umrisse,
dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht.«
1 KORINTHER 13, VERS 12
Langsam drückte ich die schwere Tür mit den Handballen auf und blieb mit
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