Spiegelblut
Ein Teil von mir sehnte sich unnatürlich und auf unerklärliche Weise nach ihm und seinem Engelsgesicht.
Shanny nickte nur.
»Wieso hat er mir nicht das Essen gebracht?«
»Es war Damontez’ Wunsch, dass ich dich begleite.«
»Und du tust immer, was er sagt?«, fragte ich herausfordernd. »Müssen die Lichtträger ihm gehorchen? Was macht er sonst mit euch?« Meine Stimme überschlug sich fast.
»Jeder macht, was er sagt.« Ihre Miene verriet in keinster Weise, was sie davon hielt. »Es ist eine Frage des gegenseitigen Respekts. Lichtträger und Vampire sind hier gleichgestellt. Sie akzeptieren einander. Wir haben uns dem Clan angeschlossen, also gehören wir dazu. Die Befehle erteilt trotzdem Damontez. Vampire haben strikte hierarchische Regeln. Wenn wir in dieser Gesellschaft leben wollen, müssen wir uns anpassen.«
Sie musterte mich von oben bis unten und lächelte dann: »Komm jetzt! Ich bringe dich ins Bad. Dort sind auch saubere Klamotten für dich.« Ihr Blick an mir herab stärkte nicht unbedingt mein Selbstvertrauen. »Aber du gehst vor mir, damit ich sehe, was du tust.«
»Nicht gefangen, ja?« Ich ging an ihr vorbei und war ganz kurz versucht, meine Kräfte mit ihr zu messen, ließ es allerdings, weil ich das Siegel auf ihrer Stirn nicht kannte. Wer einen Gegner angreift, sollte zumindest seine Fähigkeiten kennen. Außerdem war sie nicht wirklich der Feind!
Die Gänge des Kellergewölbes unterschieden sich in dem düsteren Licht der wenigen Fackeln nur durch ihre Länge und die Form der Spinnennetze in den Mauernischen. Ohne Hilfe hätte ich mich in diesen Katakomben hoffnungslos verlaufen. Als Shanny mich eine steinerne Wendeltreppe hinaufwies, zählte ich in alter Gewohnheit die Stufen: 211.
»Das Sanctus Cor liegt knapp 250 Meter vom Loch Lomond entfernt. Ich zeige dir den Innenhof, damit du wenigstens weißt, wo du bist. Hier!« Sie kickte sich ihre Schuhe von den Füßen. »Zieh sie an! Draußen ist es bitterkalt. Fast wie im Winter.«
Ich schlupfte dankbar in ihre ausgetretenen Sneakers, meine Ballerinas lagen wohl noch irgendwo in Kirklee. Auf ihre Geste hin öffnete ich die Holztür vor mir. Das Erste, das mir auffiel, waren die Diamantspeere, die durch die Nacht glitzerten, als würden Sterne vom Himmel fallen. Beinah ehrfürchtig blieb ich stehen und vergaß für einen Augenblick sogar meine Angst. Die Schemen der Lichtträger auf der Wehrmauer waren in der Dunkelheit kaum zu erkennen, dafür blitzten die Spitzen ihrer Waffen umso heller.
»Sie sagen, je dunkler die Zeit, desto heller das Licht«, sagte Shanny leise. »Je gefährlicher die Tage, desto mehr Lichtträger stellen sie auf.«
Mein Blick glitt an der zinnengekrönten Mauer entlang, auf der die Lichtträger so regungslos verharrten wie die Scots Guards vor dem Buckingham Palast. Wir standen in einem von vier Innenhöfen. Es gab eine breite Zufahrt, die in das Atrium mündete und definitiv von Vampiren bewacht wurde. Als sich einer von ihnen zu mir umdrehte, wandte ich schnell den Blick ab.
»Wieso ist die Zeit gefährlich?«, wollte ich wissen.
»Früher gab es nur wenige Seelenlose. Sie wurden von den regierenden Angelus dominiert. Doch Zeiten ändern sich. Jetzt sind es ebenso viele Seelenlose – und sie wollen die Herrschaft. Komm!« Sie fasste mich leicht am Arm und führte mich direkt auf das Herzstück des Castles zu. Der eckige Hauptturm ragte über sieben Stockwerke in die Nacht. Zwei Flügel spannten sich von ihm zu der quadratischen Wehrmauer. Die Mauer selbst besaß vier gotische Ecktürme und umgab das Schloss wie einen Rahmen.
»Was will Damontez von mir?«, fragte ich leise.
»Es steht mir nicht zu, dir das zu sagen. Das muss er selbst tun.«
»Und was ist ein Spiegelblut?«
»Es ist eine Legende in der Historie über die Engel und Dämonen. Mehr erfährst du von ihm persönlich. Schau dir das Castle gut an. Das Sanctus Cor wird lange Zeit so etwas wie dein zweites Zuhause sein.«
Ich brauche kein zweites Zuhause, wenn ich noch nicht einmal ein erstes habe, lag es mir auf der Zunge zu sagen, aber ich verkniff es mir.
Wir betraten den Hauptturm durch einen doppeltürigen Eingang, der in ein großräumiges Foyer mündete. Castles wurden oft zu Hotels umfunktioniert, das hatte ich mal im Geschichtsunterricht gelernt. Später gingen sie dann in Dämonenbesitz über, das hatte mein Lehrer vergessen zu erwähnen.
Der obere Teil des Schlosses war nicht wesentlich heller als der Kerker. Dicke Vorhänge
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