Spiegelblut
klopfendem Herzen stehen. Vor mir erstreckte sich ein weitläufiger Saal, lang und hoch, wie ein Kirchenschiff. Spitzbogenfenster mit bunten Glasmalereien säumten die beiden Längsseiten. Ganz kurz schweifte mein Blick an den Gemälden entlang, erfasste flüchtig die feierlichen Farben, aber nicht die Bilder.
Ein dunkelblauer Teppichläufer kleidete den Mittelgang aus und führte zu einem Altar am anderen Ende. Damontez stand so unbeweglich daneben wie eine Skulptur aus weißem Carrara-Marmor. Seine Augen sahen von dieser Entfernung aus wie finstere Höhlen. Alles in mir schrie nach Flucht. All mein Mut, meine Kampfbereitschaft verlor sich in seiner Gegenwart, als wäre ich nie stark gewesen.
»Komm her zu mir!«
Seine Aufforderung klang streng, und ich wagte nicht, mich zu widersetzen. Zögerlich lief ich mit gesenktem Kopf auf ihn zu, betrachtete die am Boden tanzenden Muster der Fensterbilder: schillernde Punkte, als würden sie auf einer zitternden Wasseroberfläche schwimmen.
Ich hätte nicht aufblicken müssen, um zu wissen, dass ich genau vor ihm stand. Die Intensität seiner furchtgebietenden Aura ließ meine Hände schweißnass werden und mein Herz rasen. Ich hasste meine Feigheit. Und ich hasste ihn, weil er meiner Angst nichts entgegensetzte: kein Lächeln, keinen beruhigenden Blick, kein aufmunterndes Wort – nichts, das seine Präsenz erträglicher machte. Was willst du von mir? Innerlich schrie ich, aber kein Ton kam über meine Lippen.
»Du wirst dich im Sanctus Cor verhalten, wie es sich für ein Mädchen in der Obhut eines Vampirs gehört«, sagte Damontez jetzt und seine Stimme klang, als erlaubte er keine Unterbrechung.
In der Obhut? Hallo?
»Du tust alles, was ich verlange. Bedingungslos. Wenn ich spreche, hörst du aufmerksam zu. Du sprichst nur nach Aufforderung. Du stellst Fragen nur nach Aufforderung. Dein Blick bleibt am Boden, es sei denn, ich fordere dich auf, etwas anderes zu tun. Wenn wir zusammen unterwegs sind, läufst du einen Schritt seitlich versetzt hinter mir. Rechts. Sind andere Vampire zugegen, sprichst du überhaupt nicht und hältst Kopf und Blick gesenkt. Stelle ich dir in ihrem Beisein eine Frage, antwortest du mir mit einem Blinzeln: einmal für Ja, zweimal für Nein. Nur dafür darfst du den Kopf heben. Soweit verstanden?«
Einen schrecklichen Moment lang suchte ich vergeblich ein Lachen oder Augenzwinkern in seinem Gesicht, irgendetwas, das mir sagte, er erlaubte sich nur einen schlechten Scherz mit mir. Aber seine Miene war eisern und blieb es. Zwanzig Sekunden später schloss ich endgültig jedes Missverständnis aus, blinzelte verwirrt, rieb die Hände an der Jeans, griff in den Stoff und ballte die Fäuste, um ein aufbegehrendes Zittern zu unterdrücken.
»Ob du das verstanden hast, will ich wissen!«
Mein Entsetzen ließ mich schweigen, auch wenn ich jetzt wohl eine Antwort hätte geben dürfen. Ich zwinkerte auf den Boden, einmal, zweimal, ich träumte nicht, seine Worte waren schreckliche Realität. Ich sah an ihm vorbei auf die Fensterbilder, ohne sie wirklich wahrzunehmen, zählte stattdessen die einzelnen Scheiben, aus denen sie zusammengesetzt waren.
»Ich wiederhole meine Frage jetzt zum dritten und letzten Mal: Hast du das verstanden?«
»Ja.« Ich hatte bislang nicht gewusst, welche große Kraft ein so kleines Wort kosten konnte.
Er quittierte meine Antwort mit einem kurzen Kopfnicken. »Möchtest du etwas fragen?«
Ja, ob du sie noch alle beisammenhast! Laut sagte ich: »Was, wenn ich diese dämlichen Regeln nicht befolge?« Ich würde das nicht schaffen, allein mein Stolz schrie schon jetzt dagegen an wie ein Kesselflicker. Den Blick am Boden, immer – das konnte er nicht verlangen!
»Dann werde ich mir eine Konsequenz überlegen, die dafür sorgt, dass du es tust.«
Mit anderen Worten: Er würde mich bestrafen. Wie könnte das aussehen? Ich starrte auf meine Fußspitzen und hielt mich gerade noch rechtzeitig davon ab nachzufragen, was er sich unter Konsequenz vorstellte. Ich entschied mich, es erst einmal nicht wissen zu wollen.
»Willst du noch etwas sagen?«
In mir rangen Verzweiflung und Stolz, das Atmen fiel mir schwer, aber es lag nicht an Damontez’ Aura. Ich schüttelte mit brennenden Wangen den Kopf und kam mir unendlich gedemütigt vor. Seit wann waren überhaupt Menschen, oder speziell Mädchen, in der Obhut von Vampiren?
Bitte, er kann das doch nicht ernst meinen …
»Ein Spiegelblut erkennt man an drei Fähigkeiten«,
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