Spiegelblut
stehen blieb. Nach den ersten Tönen wollte man weinen vor Ergriffenheit. Sie war ein Wunder, er konnte nur glauben, dass sie existierte, solange er sie ansah. Und immer wieder ließ er den Atem zu, der von ganz alleine kam. Jedes Mal war es, als feierte er einen Triumph über das Leben, das er so hasste.
Damontez selbst blieb stets in ihrer Nähe, überwachte sie eifersüchtig und hielt die Vampire von ihr fern.
Pontus hatte kaum Gelegenheit, sich unbemerkt in ihr Verlies zu schleichen und ein paar Worte mit ihr zu wechseln. Damontez hatte ihr nach dem missglückten Training ein Treffen mit ihm grundsätzlich verboten – es war ohnehin gegen die Regeln. Pontus musste sich überwiegend damit begnügen, sie aus der Ferne zu beobachten, aber er sah die Veränderung in Damontez’ Gesicht, auch wenn er sie gut vor ihm verbarg: eine tiefe, wahrhaftige Sehnsucht in seinem düsteren Blick, die seine Züge weicher machte und alte Strukturen aufbrach.
Mit Dorians Tod schien alle Zuversicht aus ihm gewichen zu sein. Jahrelang hatte er das Sanctus Cor nicht verlassen. Als die Seelenlosen dann anfingen, die Clans der Angelus zu bekriegen, riss ihn das aus seiner Lethargie. Es war verrückt, mitunter dachte er, Damontez wollte im Kampf sterben. Und das, obwohl er in all den Jahrhunderten zuvor so sehr darauf geachtet hatte, diese eine Seele zu bewahren. Was Damontez in dem Königshaus der Cozalus erlebt hatte, mochte er sich nicht ausmalen. Wie lange er Remos Schuld getragen hatte, wie lange er nach den alten Traditionen bestraft worden war – für Taten, die der junge Remo-Eliano begangen hatte … Nachdem Remo sich für die Seite der Seelenlosen entschieden hatte, lag es an Damontez, die Seele zu schützen. Wie schwierig mochte es gewesen sein, den düsteren Leidenschaften der anderen Seelenhälfte zu trotzen? Unvorstellbar – bei Coco kam es ihm jetzt allerdings zugute.
Damontez sprach nie über seine Vergangenheit und so konnte Pontus nur glauben, was ihm in all den Jahren zugetragen worden war. Das meiste natürlich von den Lichtträgern Roms, die nach dem ein oder anderen Gläschen Wein sehr gesprächig wurden.
Für Damontez war es so gut wie unmöglich, Freundschaft zu empfinden. Gute Gefühle mussten monumentalen Charakter besitzen, um bis in die andere Seelenhälfte vorzudringen. Erst dann war ein Halbseelenträger fähig, diese wirklich wahrzunehmen. Das bedeutete aber auch, dass beide Seelenbrüder dieses Gefühl teilten. Genau das war bei Dorian passiert und genau deswegen war er jetzt tot.
Pontus hatte Damontez kennengelernt, als er Dorian zu ihm brachte. Er erwähnte seinen Auftrag – der damals noch nicht den grausamen Zusatz enthalten hatte –, ließ aber seine Unsterblichkeit außen vor. Damontez selbst zeigte sich überrascht und erfreut, denn weder er noch Remo hatten je damit gerechnet, ein Spiegelblut zu Gesicht zu bekommen. Er nahm Pontus in seinen Clan auf, sie wurden Weggefährten. Als Dorian dann starb, gab sich der Halbseelenträger ein anderes Versprechen: Das Leben des nächsten Spiegelblutes über das seiner Seele zu stellen. Er hatte nicht ablehnen können, als Pontus ihm Coco anvertraute.
Während er seine Runden über den schneebedeckten Wehrgang zog, schmerzte ihn die Ironie von Cocos Schicksal: Ihre Angst vor Spiegeln und Dämonen hatte sie vermutlich genau zu dem gemacht, was sie heute war.
Ein helles Lachen riss Pontus aus den Gedanken. Verdammt! Was machten Coco und Shanny ganz allein im Westhof? Wenn jetzt ein feindlicher Lichtträger der Raumkrümmung hier auftauchte? Shanny war Novizin, außerdem trug sie noch nicht einmal eine Diamantsonne bei sich. Mit einem Satz sprang er von der hohen Wehrmauer direkt in den Hof und schritt eilig an dem rechten Flügel des Hauptturms vorbei. Um die Mädchen besser im Blick zu haben, blieb er im dunklen Schatten des Turms stehen. Die beiden formten Schneebälle mit bloßen Händen und bewarfen sich gegenseitig damit. Weiße Flocken sammelten sich in ihren Haaren und glitzerten im Licht der alten Laternen. Sein Blick strich zwischen den Mädchen hin und her. Shanny war eine der wenigen Lichtträgerinnen, die er mochte und der er vertraute. Trotzdem wurde er das Gefühl nicht los, dass die zwei etwas Verbotenes taten, konnte aber keinen Grund für sein Misstrauen entdecken – außer dass Shanny eine Lichtträgerin der Illusion war. Seine Augenbrauen wanderten angesichts dieses letzten Gedankens nach oben, doch er griff nicht ein. Warum auch,
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