Spiegelblut
es war schön, Coco so ausgelassen lachen zu hören. Er setzte noch einen Schritt nach, um sie besser sehen zu können. Die Mädchen warfen sich rücklings in die weiße Pracht, bewegten Arme und Beine, dann sprangen sie auf und begutachteten die Figuren, die ihre Körper im Schnee hinterlassen hatten. Coco wirkte so unbeschwert.
Unwillkürlich legte er eine Hand zwischen die Schlüsselbeine. War es das Wissen, sie eines Tages für seine Sterblichkeit töten zu müssen, das ihn diese Zuneigung spüren ließ? Wäre es anders, wenn Cheriour ihm nie diese Bedingung gestellt hätte? So lebendig, wie sie mit Shanny gerade die Flocken aufwirbelte, kam es ihm vor, als wäre es unmöglich, dieser Anweisung Folge zu leisten. Wie warm sich seine Lungen anfühlten, wenn er Luft holte. Als entfachte der Atem eine sanfte Glut in ihm – einem Dämon der Kälte.
Coco wandte den Kopf in seine Richtung, als hätte sie die Anwesenheit eines Vampirs gespürt. Sekundenlang hielt sie wie versteinert inne, dann hob sie die Schultern, lachte erleichtert, bückte sich und schob Schnee in ihre Hände. Sie trug nur ein hauchdünnes Shirt, das jetzt am Rücken komplett durchnässt auf ihrer Haut klebte, Jeans und braune Lammfellstiefel. Weder Handschuhe noch Jacke. Er müsste allein deshalb schon einschreiten, weil sie sich völlig unterkühlte.
»So, Shanny!« Der Schneeball lag in ihrer Hand und sie rannte auf die blonde Lichtträgerin zu. »Der Treffer von vorhin schreit nach Rache!« Sie warf daneben und kicherte.
»Hey – wie fühlt sich Schnee in Spiegelsicht an?«
Coco blieb stehen. »Du meinst für mich als Synästhetikerin?«
Shanny lächelte feinsinnig. »Oder so!«
Coco drehte sich einmal um sich selbst. »Schnee, als Ziffer eine Null, kristallfarben natürlich, er ist wie eine zur Ruhe gekommene Sehnsucht, die das Herz immer noch brennen lässt. Wie Himmelsscharen, die dich in den letzten Schlaf singen, aber leise«, sie legte einen Finger auf die Lippen, »so leise … nur die Engel können es hören. Schnee schmeckt nach Silber. Nach Trauer, Tod und Ewigkeit.«
»Halleluja«, meinte Shanny trocken. »Lass das bloß nicht Damontez zu Ohren kommen.«
»Ich bin kein Spiegelblut. Das mit dem Schnee weiß doch jedes Kind. Und es ist mir egal, was Mr. Senk-den-Blick-vor-mir-Coco-Marie dazu sagt.«
Sie imitierte so gekonnt seine Stimme, dass Pontus in seinem Versteck beinah lauthals gelacht hätte. Er fragte sich gerade, wo Damontez wohl steckte, als er ihn im Schatten der westlichen Wehrmauer stehen sah. Er ließ sie also doch nicht aus den Augen! Das hätte er sich ja denken können. Und Coco war scheinbar völlig ahnungslos, sonst hätte sie ihn eben sicher nicht so spöttisch nachgeahmt. Vampire verschmolzen mit der Dunkelheit und das menschliche Auge war nicht imstande, die Kontur der Kältedämonen von den Schatten zu trennen.
Leider war Damontez seine eigene Anwesenheit auch nicht entgangen. Mit wenigen Sprüngen wechselte er von den Mädchen unbemerkt die Seite und blieb neben Pontus an der Mauer des Hauptturms stehen. Fragend hob er eine Augenbraue, sagte aber nichts. Lange Zeit standen sie einfach nur nebeneinander und beobachteten das dunkelhaarige Mädchen, das jetzt die Arme ausbreitete und durch den Schnee segelte, als könnte es in die Freiheit fliegen.
»Es ist schwer, sie nicht gern zu haben«, sagte Pontus irgendwann so leise, dass es nur Damontez hören konnte. »Du lässt sie allein?«
»Shanny glaubt, ich sei außer Haus. Ich vermute, sie wollte ihr ein wenig Abwechslung verschaffen. Sie sollte sie eigentlich nur ins Bad führen.«
»Dann hört Shanny nicht auf dich«, stellte Pontus fest. »Denkt sie an die Gefahr eines Raumkrümmers?«
»Das ist unwahrscheinlich.«
»Aber nicht unmöglich.«
»Ich spreche mit ihr.«
Wieder hingen ihre Blicke auf dem Mädchen. Sie drehte sich im Schnee und hob die Arme Richtung Himmel. Dicke Flocken wirbelten um sie herum, hüllten sie in ein Kleid aus weißem Eis. Sie lächelte, doch etwas in ihren Augen verriet Pontus auch ihre große Trauer. So vieles hatte sie schon in diesem kurzen Leben begraben müssen.
»Ich glaube, es liegt daran, dass sie ihr Spiegelbild nicht kennt«, sagte Pontus nach mehreren Minuten. »Alles, was sie sagt und tut, ist wahrhaftig, es entspringt ihrem Inneren. Sie hat nicht gelernt, sich zu verstellen. Sie weiß nicht um ihre Wirkung.«
Damontez’ Kopf fuhr zu ihm herum. »Ich wusste gar nicht, dass du das Spiegelblut studierst«,
Weitere Kostenlose Bücher