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Spiegelkind (German Edition)

Spiegelkind (German Edition)

Titel: Spiegelkind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alina Bronsky
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meines Vaters zucken im Anflug eines Lächelns. »Es ist nicht das, was du denkst.«
    Er schließt die Augen, presst die Lippen aufeinander. Die Uhr tickt. Ksü atmet leise.
    Ich sehe die freie Betthälfte, auf der nachts meine kleine Schwester schläft.
    Ich atme aus. »Kassie.«
    Mein Vater schweigt.
    »Ich fasse es nicht.«
    Mein Vater holt tief Luft. Seine Sätze kommen jetzt schnell und zerhackt.
    »Deine Mutter will sie mir wegnehmen. Das darf sie nicht. Hol deine Mutter, ich muss mit ihr sprechen. Ich tue niemandem was. Ich will Kassie einfach nur bei mir haben. Ohne sie sterbe ich ganz.«
    »Sie hat dir so viel Kraft gegeben, dass du dachtest, du könntest den Pakt mit meiner Mutter brechen? Den Pakt, in dem du versprochen hast, meiner Mutter selbst dann nicht zu schaden, wenn sie dich verlassen will?«
    »Ich … verspreche ihr jetzt … Sicherheit.«
    »Warum sollte ich dir noch etwas glauben?«
    »Weil ich sterbe, Juli«, sagt mein Vater und eine trübe Träne kriecht unter seinem Augenlid hervor, kullert die Schläfe und die Wange herunter und hinterlässt einen winzigen nassen Fleck auf dem schneeweißen Bettbezug.
    Vor der Tür zu Papas Schlafzimmer drücke ich mein Gesicht gegen die Raufasertapete. Ich bin verwirrt und habe keine Worte.
    Ksü fasst mich an den Schultern. Ich frage mich, ob sie alles genauso verstanden hat wie ich.
    »Wir müssen deine Geschwister zu deiner Mutter bringen. Aber du kannst nicht für Laura entscheiden. Du musst ihr sagen, was du gesehen und gehört hast. Sie wird selber wissen, was sie zu tun hat.«
    »Ja«, sage ich. »So wird es sein.«
    Wir gehen durch das gespenstische Haus, an den Türen mit den vergoldeten Griffen vorbei. Ingrid und Reto sitzen im Wohnzimmer vor dem ausgeschalteten Elektrokamin. Ingrid hat die Hände auf dem Schoß gefaltet, Reto hat sich zurückgelehnt und studiert das Tapetenmuster. Sie bewegen sich nicht, als wir an der Wohnzimmertür vorbeilaufen.
    Ich finde die Zwillinge in dem Zimmer, in dem ich immer geschlafen hatte, aber jetzt ist es nicht mehr meins. Es ist nicht mehr mein Haus, nicht mein Zimmer, nicht mein Leben. Es ist nicht mein Vater, es sind nicht meine Großeltern. Vielleicht werde ich das eines Tages anders sehen. Aber jetzt sind sie meine Feinde.
    Aber es sind meine kleinen Geschwister, die vor dem Quadrum stehen und sich in seltener Eintracht an den Händen halten. Sie schauen auf das gemalte Haus.
    »Seid ihr bereit?«, frage ich. Sie nicken. Wieso wissen sie Bescheid? Wieso muss man ihnen nichts erklären? Bin ich die Einzige, die so überrumpelt worden ist?
    Die Tochter einer Phee wird mit fünfzigprozentiger Wahrscheinlichkeit auch eine Phee.
    Kassie ist eine Phee, das kann auch ein Blinder sehen. Sie weiß Dinge, die andere nicht wissen. Sie ist erst sieben. Mein Vater will sie an seiner Seite haben, damit sie unsere Mutter ersetzt. Sie, nicht mich.
    Die Söhne einer Phee sind sehr besondere …
    Wie auch immer dieser Satz endet, er ist richtig.
    Ich bin das einzige Kind meiner Mutter, das nichts Besonderes ist.
    Ich nehme Ksü an die Hand, stelle mich hinter die Zwillinge.
    »Wir zuerst«, sagt Kassie. Und dann höre ich noch: »Armer Papa.«
    Sie springt.
    Zum ersten Mal in meinem Leben wache ich morgens auf, weil Sonnenstrahlen meine Nase kitzeln. Weil ein kleines Kätzchen mit orangefarbenem Fell auf meinen Beinen landet und mit rauer Zunge meine Zehen ableckt. Weil meine Geschwister so laut lachen. Weil es nach Kaffee und frisch gebackenem Brot duftet. Weil meine Freundin – oder ihr Inspiro – mir ein Kissen um die Ohren knallt. Weil meine Mutter mir wilde Erdbeeren unter die Nase hält, damit der Duft mich aus wirren Träumen kitzelt, die sich fortsetzen, wenn ich die Augen aufmache.
    Das Leben in der Welt meiner Mutter kommt mir so unwahrscheinlich süß vor, dass ich mich jeden Morgen selber in den Arm kneife.
    Ich habe noch nicht viel mitbekommen. Ich bin zu sehr in mich selbst vertieft. Ich mache wenig: Höre dem Wind in den Baumkronen zu, liege faul auf dem Bett herum und lese alte Bücher, und wenn meine Mutter mit meinen Geschwistern und Ksü in den Wald geht, manchmal für Stunden, und alle mit benebeltem Blick zurückkommen, dann gehe ich niemals mit. Ich bleibe im Häuschen und sie lassen mich in Ruhe. Ich lese ein bisschen, dann schlage ich das Buch zu und denke darüber nach.
    Ivan ist auch da. »Er wird es schaffen«, sagt meine Mutter. Er hat außer der Platzwunde an der Stirn noch eine klaffende Wunde

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